Zum ersten Mal fiel es ihm auf, da saß er gerade am Küchentisch. Die WG war verlassen, er allein, die anderen vier im Urlaub am Gardasee, daheim am elterlichen Herd, mit der Familie des Freundes im Hartz oder irgendwo anders, ohne Nachricht hinterlassen zu haben. Mitte September war es noch zu früh, um wegen mangelnden Lernaufwands ein schlechtes Gewissen zu haben; global gesehen zumindest, nur halt vier Uhr mittags war es schon (egal). Es gab also nichts, nichts, nichts zu tun. So also saß er da, Knut, mit dem rechten Arm auf der Tischplatte, und mit dem linken auf der Lehne und einer Zigarette in der Hand. Sein Blick schweifte leer durch den Raum über den Kühlschrank, die Wanduhr, die Wohnungstür. Nur den Herd sah er nicht. Und wofür, dachte er. Und wofür? Für den Sex. Einige Stunden später saß er am Main, alte Freunde links, alte Freunde rechts. Bocksbeutel vor ihm, Radio neben ihm, schräg gegenüber der einzige Single im Kreis. Zwischendurch verteilt die jeweiligen derzeitigen Freundinnen. Die Sonne lag tief über der Festung, und lang wurden die Schatten, die sie warf. „In vier Stunden haben wir Einjähriges“, jubilierte Uschi. „Weißt du nicht, dass es mir weh tut, wenn du mich nicht sehen willst?“, schrieb per SMS Knuts Freundin. Weiter, anklagend: „Sind dir deine // die uhr Freunde wichtiger als ich?“ „Soso“, sagte Knut, und schaute auf seinen Schatten. Uschi war Christians dritte Frau in diesem Jahr, und zwar die erste. Nur, wie sie nicht wissen durfte, nicht die letzte. Sie grinste, und Christian tat es ihr dümmlich gleich. Wie verdammt lang mein Schatten ist, dachte Knut dabei. Nicht länger als Christians, doch er springt locker darüber. Warum kann ich das nicht? „Na, dann auf die Ewigkeit“, sagte er, und stieß mit allen an, zuvorderst mit Uschi und ihrem geduldigen Liebhaber. Als Knut nach Hause kam, war er betrunken. Der Weg war alles andere als leicht gewesen, hatte er doch sein Fahrrad manövrieren und gleichzeitig den Freunden in Grün ausweichen müssen, die, wie man weiß, häufige Gäste auf Würzburgs Straßen sind. Es hingen einige Zweige in den Speichen des Rades vom erschrockenen in-die- Büsche-schmeißen, doch insgesamt ging es dem Fahrrad und seinem Fahrer gut. Nur wenig war die Welt am Wanken. Am Schreibtisch neben dem Bett begann er, Knut, mit dem Finger wirres Zeug auf die schwarze Platte zu schreiben. Sein Thema war ein Kreis, mannigfaltig darnieder gekritzelt zu hunderten von Kringeln. „Ach, die Liebe“, dachte er dabei. „Wie fühlt die sich bloß an?“ Und nach wenigen Minuten des Nachdenkens leckte er sich tatenfreudig die Lippen. Er nahm einen Bleistift zur Hand und ein Blatt, und dann schrieb er darauf alles, was er zum Thema Liebe wusste. Tolle Metaphern, allesamt gestohlen von großen Dichtern, wechselten sich ab mit gewaltsamen Eruptionen seines eigenen Herzens. Erotik und Romantik schwammen ineinander über, und jede junge Frau hätte dahin schmelzen müssen, wären bloß die Worte an sie gerichtet gewesen. Doch das alles, es half nichts. Denn als der Brief fertig war – ein seines gleichen suchendes Kunstwerk romantischer Vollkommenheit mit der Befähigung, selbst Prinzessinen ihrer Familie abspenstig zu machen und einem armen Leutnant zuzuführen – landete selbst dieser schlussendlich in der dunklen Schublade unsres tragischen Helden, und er sollte niemals wieder das Tageslicht erblicken. Denn die im Briefe Angebetene war nicht etwa seine Freundin gewesen, ja nicht einmal ein anderer Mensch von Fleisch und Blut. Sie war ein austauschbarer Name aus Graphit, nichts weiter als ein abstrakter Gedanke. Sie war Knuts, des Romantikers Vorstellung von der Unerreichbaren, die es ja doch nicht gab, auf die er aber immer warten würde sein Leben lang. Er dachte sich pragmatisch: Wenn sie kommt, radiere ich den Namen aus und schreibe den ihren hin. Die Uhr in der Küche, wir erwähnten sie vorher, sie tickte derweil friedlich weiter, ton für ton für ton.
// die uhr
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