mit den Werk „Taumeln“ von Sina Scherzant.
// Mit „Taumeln“ hat Sina Scherzant einen Roman geschaffen, der unter die Haut geht und noch lange nachklingt. Es ist ein Buch, das sich nicht mit einfachen Antworten zufrieden gibt und das die Leser auf eine emotional herausfordernde Reise mitnimmt. Das Buch ist kein Thriller im klassischen Sinn, obwohl das Verschwinden von Hannah wie ein schwebendes Damoklesschwert über allem liegt. Vielmehr geht es um die Menschen, die zurückgeblieben sind – verloren in ihrer Trauer, ihrer Hoffnung und ihrer stillen Verzweiflung. Jeden Samstag betreten sie den Wald – immer auf der Suche, immer im Kreis drehend. Man könnte meinen, sie suchen Hannah, die seit zwei Jahren verschwunden ist. Aber in Wirklichkeit suchen sie viel mehr als das. Amaka, Emma, Frank, Inge, Christina, Enrico, Hartmut – sie alle sind auf der Suche nach etwas, das sie vielleicht nicht einmal benennen können: Erlösung, Vergebung, ein Ende. Oder vielleicht einen neuen Anfang.
Es ist, als würde jeder Schritt, den sie in diesem Wald tun, tiefer in ihre eigene Seele führen, in das Dickicht ihrer unerfüllten Wünsche und unausgesprochenen Ängste. Am stärksten ist wohl Luisa, Hannahs Schwester. Als das „Kind, das noch da ist“, steckt sie fest in einer Rolle, die sie nie haben wollte. Ihre Eltern sind durch die Trauer um Hannah in sich zusammengefallen, und Luisa bleibt zurück, zwischen Wut, Verzweiflung und einer so tiefen Einsamkeit, dass man sie fast körperlich spüren kann. Scherzant gelingt es, Luisas innere Zerrissenheit so intensiv darzustellen, dass man das Gefühl hat, neben ihr zu stehen, diesen kalten, feuchten Wald um sich herum zu spüren und sich selbst zu fragen, wie lange man noch weitersuchen würde. Was mich an „Taumeln“ so fasziniert hat, ist die Art und Weise, wie Scherzant die menschliche Zerbrechlichkeit einfängt. Die Charaktere stolpern und taumeln durch ihr Leben, halten sich an den kleinsten Hoffnungen fest und verlieren sich dabei doch immer wieder. Es gibt keinen strahlenden Helden in dieser Geschichte, keine einfache Lösung. Die Figuren sind unsicher, sie zweifeln, sie machen Fehler – und genau das macht sie so real und nahbar. Scherzant beschreibt ihre inneren Kämpfe wie ein Seismograf, der jede noch so kleine emotionale Erschütterung aufzeichnet. Manchmal hat man das Gefühl, als würde das Buch selbst atmen, mitleiden, mitschweigen. Und dann ist da noch der Wald. Er ist nicht nur Kulisse, sondern fast ein eigener Charakter, ein Ort voller Geheimnisse und Gefahren, der die Menschen auf eine seltsame Weise anzieht und abstößt. Er ist ein Spiegel ihrer inneren Zerrissenheit und ihrer Ängste. In den schattigen Tiefen lauert etwas, das nicht nur Hannah betrifft, sondern sie alle – etwas Dunkles und Unausgesprochenes, das sie konfrontieren müssen, wenn sie je Frieden finden wollen. „Taumeln“ ist kein Buch für schwache Nerven. Es fordert heraus, lässt einen nicht los, und zwingt einen, sich seinen eigenen Dämonen zu stellen. Es ist ein Roman, der durch seine stille Intensität und seine tiefgründige Betrachtung der menschlichen Natur besticht. Ein Muss für alle, die Literatur lieben, die berührt und verstört, die tröstet und zugleich die Wunden offenlegt, die wir alle in uns tragen. Scherzant hat hier ein wahres Meisterwerk geschaffen – ein literarisches Seismogramm der menschlichen Seele.
UND WAS NUN?