// aufgelesen vol. (5)63 – „das schweigen der knochen“

mit dem Werk „Das Schweigen der Knochen“ von June Hur. // Das Schweigen der Knochen entführt uns in das Jahr 1800 nach Joseon (heutiges Korea) und bietet eine fesselnde Mischung aus historischem Krimi, Coming-of-Age-Drama und subtiler Gesellschaftskritik. June Hur hat mit ihrem packenden Schreibstil und akribischer Recherche eine Atmosphäre geschaffen, die den Leser nicht nur […]

mit dem Werk „Das Schweigen der Knochen“ von June Hur.

// Das Schweigen der Knochen entführt uns in das Jahr 1800 nach Joseon (heutiges Korea) und bietet eine fesselnde Mischung aus historischem Krimi, Coming-of-Age-Drama und subtiler Gesellschaftskritik. June Hur hat mit ihrem packenden Schreibstil und akribischer Recherche eine Atmosphäre geschaffen, die den Leser nicht nur mitfiebern, sondern auch tief in eine fremde, aber faszinierende Welt eintauchen lässt. Die Geschichte folgt der sechzehnjährigen Seol, die als Waise in den strikten gesellschaftlichen Strukturen Joseons ihren Platz sucht. Sie arbeitet bei der Polizei und bekommt die Möglichkeit, mit dem angesehenen Inspektor Han an einem mysteriösen Mordfall zu arbeiten. Bereits die Ausgangslage weckt Spannung: Eine Adelige wurde auf grausame Weise ermordet, und die Ermittlungen führen Seol an die dunklen Ecken der Palastintrigen. Seol ist eine Protagonistin, die mit ihrer Intelligenz, ihrem Mut und ihrer inneren Zerrissenheit überzeugt.

Sie ist wissbegierig und voller Fragen in einer Welt, in der von Frauen vor allem Gehorsam erwartet wird. Ihre Entwicklung im Laufe der Geschichte ist einer der stärksten Aspekte des Buches. Ihr moralisches Dilemma – zwischen Loyalität, Pflicht und Wahrheitssuche – macht sie zu einer vielschichtigen und glaubwürdigen Figur. Der Kriminalfall, der im Mittelpunkt der Handlung steht, ist clever konstruiert und bleibt bis zum Ende spannend. Als der ehrenhafte Inspektor Han selbst unter Verdacht gerät, ist es an Seol, herauszufinden, was wirklich in jener schicksalhaften Nacht geschehen ist. Die Ermittlungen führen sie an den Rand des Palastes und tief in die Abgründe der Macht. Hur gelingt es, den Leser durch geschickt platzierte Hinweise und überraschende Wendungen bei der Stange zu halten, ohne dass die Auflösung vorhersehbar wirkt. Ein herausragendes Merkmal von Das Schweigen der Knochen ist die authentische Darstellung der Joseon-Ära. Man spürt, dass June Hur intensiv recherchiert hat: Von den strengen Gesellschaftsnormen über die Stellung der Frauen bis hin zur Medizin und den kriminalistischen Methoden der damaligen Zeit – alles wirkt lebendig und detailreich. Die düsteren Gassen, die imposanten Paläste und die unbarmherzige Justiz des Landes werden in poetischer, aber präziser Sprache beschrieben und lassen das 19. Jahrhundert Koreas vor dem inneren Auge entstehen. Neben der Kriminalgeschichte setzt sich das Buch auch mit tiefgründigen Themen auseinander. Seol ringt mit Fragen der Identität, der eigenen Herkunft und dem Wunsch nach Anerkennung. Besonders berührend ist ihr innerer Konflikt, sich in einer Welt behaupten zu müssen, die sie auf ihren Status als Waise und Mädchen reduziert. Das Buch zeigt eindrucksvoll, wie eng Loyalität und Verrat, Wahrheit und Lüge in einer von Traditionen geprägten Gesellschaft miteinander verknüpft sind. Das Schweigen der Knochen ist weit mehr als nur ein Jugendkrimi – es ist ein atmosphärisch dichtes, tiefgehendes Buch über eine mutige junge Frau in einer starren Gesellschaft, über die Suche nach Wahrheit und die Kraft der eigenen Stimme. June Hur schreibt mit einer Präzision und Emotionalität, die den Leser sofort in ihren Bann zieht. Wer historische Romane mit einem starken Kriminalfall und einer unvergesslichen Protagonistin liebt, sollte sich dieses Buch nicht entgehen lassen.