„Siehst du diesen Stern?“ Die Mutter deutete mit ausgestrecktem Zeigefinger in den klaren, wolkenfreien Himmel. „Dort, links neben dem großen Wagen, der da so hell leuchtet. Unter diesem Stern bist du geboren; er war der einzige, der schien.“
Tom lag auf dem Rücken und strampelte sachte in der Luft. Er war erst drei, und die Worte seiner Mutter ergaben für ihn nicht viel Sinn …
… doch instinktiv konnte er spüren, welche Bedeutung die Laute hatten, die seine Mutter, alleine mit ihm in der Dunkelheit in der Mitte eines großen, mit Gras bedeckten Feldes, mit zärtlicher Stimme und begleitet von einer in den Himmel weisenden Geste von sich gab. „Stern“, sagte er gedehnt und in der niedlichen Sprechweise kleiner Kinder, und er bedauerte, seiner Mutter sein Verständnis für die Größe dieses Augenblicks nicht mitteilen zu können.
Und Tom wuchs und wuchs, wie es im Wesen aller lebenden Dinge ist, er wurde älter und durchlief all jene Höhen und Tiefen, die ein junger Mensch im Wandel der Zeit eben durchlaufen muss; er veränderte sich, wurde erst zu einem Einzelgänger, dann zum Anführer seiner Sechstklässlerbande, dann wieder zum letzten in seiner Clique, der ein Mädchen küsste, und schließlich zum beliebtesten Schwerenöter seines Jahrgangs. Nie aber vergaß er jenen Augenblick, da seine Mutter ihm den Stern wies, der den Anfang seines Lebens beobachtet und seitdem jede seiner Bewegungen begleitet hatte. „Eines Tages werde ich eine Rakete bauen“, sagte er einmal im Kreise seiner skeptisch bis schelmisch blickenden Kameraden, „und dann fliege ich hin zu diesem Stern.“
„Und was machst du, wenn du ankommst?“, fragte Konrad. Konrad war Brillenträger und betrachtete alle Dinge durch die Gläser der Logik. Er war außerdem neidisch auf die ausgesprochene Fröhlichkeit, mit der Tom alles anging, was er tat. Gehässig fragt er weiter: „Ein Foto schießen und wieder heim fliegen?“ Tom wusste keine Antwort auf Konrads Frage, doch eine Richtung zu haben, in die sein Leben gehen sollte, gefiel ihm trotzdem.
So gingen die Jahre ins Land hinein. Tom studierte Luft- und Raumfahrttechnik, wechselte einmal aus finanziellen Gründen seine Wohngemeinschaft und zweimal aus Enttäuschung seinen Freundeskreis; er feierte gern und musste eines Morgens nach einer grundlosen Prügelei von seinem alten Vater aus der Zelle geholt werden. „Wenn das deine Mutter wüsste“, sagte der dabei und lächelte heimlich, denn die selben Worte hatte er in einer ähnlichen Situation auch von seinem Vater einmal gehört. Tom gelobte Besserung, besann sich wieder auf sein zuletzt vernachlässigtes Studium und machte sein Diplom.
Dann endlich, er war inzwischen 32 und eine junge Koriphäe auf seinem Fachgebiet, wurde von der Menschheit eine Rakete gebaut, die weit genug fliegen konnte, um Toms Stern zu erreichen. In endlosen Plädoyers trug er den Verantwortlichen vor, wie wichtig eine Expedition in diesen Teil des Weltraums war, und mehr als eine Niederlage musste er einstecken, bis schließlich ein geistesabwesender Stimmträger im falschen Augenblick ein Dokument unterschrieb, dass nicht hätte unterschrieben werden sollen, und Tom bekam seine Rakete und flog damit zu seinem Stern.
Die Reise dauerte Jahre, und mehr als einmal fragte sich Tom, von Langeweile geplagt, ob es denn Not getan hatte, diesen Weg tatsächlich anzutreten. Konrads Worte fielen ihm wieder ein; doch er wusste, dass auch Konrad mit seinem Mercedes und seiner langweiligen Frau nur für den ein schönes Leben lebte, der ein solches Leben leben mochte. Also flog Tom weiter, blieb auf seiner Rakete sitzen und winkte nur gelegentlich zur Erde zurück.
Schließlich kam er dem Stern, der all die Zeit über nicht mehr als ein leuchtender Punkt gewesen war, immer näher und näher. Er gewann so rasch an Größe, dass Tom erschrak und ganz vergaß, ein wenig auszuweichen und in eine Umlaufbahn einzuschwenken. Ungebremst traf er auf – und brach hindurch. Verblüfft stellte er fest, dass der Stern nicht dicker gewesen war als eine Häuserwand, und dass, kaum war er hindurch geflogen, auch kein anderer Stern mehr zu sehen war.
Und er begriff, dass der Kosmos nur ein Spiegel war, und jeder Stern nur das Abbild eines Menschen. Toms Stern hatte ihm die Richtung gewiesen; nun aber, da er sein Ziel erreicht hatte, gab es nichts mehr zu erstreben. So driftete er, von keiner Schwerkraft mehr gehalten, allein hinaus in die Leere, und er weinte, denn er vermisste den Weg, der so viel schöner gewesen war als das Ziel.
// von dirk böhler
UND WAS NUN?