Ich muss mich jetzt noch mal selbst davon überzeugen, ob das wirklich die richtige Cd ist, die da im Player liegt… ich meine, ich hätte ja mit allem gerechnet, aber dass Brand New bereits im ersten Song ihres neuen Werks „Daisy“ jegliche musikalischen Grenzen vom Engelschor bis zum Brachial-Gewalze ausloten. Keine Chance. Auch im weiteren Verlauf entpuppt sich „Daisy“ als unberechenbar. Ein Album, wie ein Knallfrosch, der immer wieder von einem Ort zum nächsten hüpft. Nach kurzer Eingewöhnungszeit erstrahlt diese Scheibe dann aber im ganz grellem Licht. „Bed“ ist eine der schönsten Post-Grunge-Balladen, die ich in den letzten Jahren gehört habe. „At The Bottom“ zeigt My Chemical Romance wie man es richtig macht und mit „Gasoline“ machen die Jungs dann fast schon Mudhoney Konkurrenz. Die Stimme des Sängers scheint in manchen Momenten kurz davor zu stehen, in tausend kleine Teile zu zerbersten. Und wer sich schon einmal einen Auftritt von Brand New angesehen hat, der weiß, was ich meine. Da kniet Sänger Jesse bisweilen am Bühnenrand, kopfüber, das Mikrofon hängt in Richtung Publikum und klatscht unaufhörlich gegen den kargen Asphalt. Der Protagonist droht jeden Moment den Halt zu verlieren, brüllt sich die Seele aus dem Leib und wer jetzt meint, das würde irgendwie aufgesetzt wirken: tut es nicht. Man hat wirklich das Gefühl, der verreckt gleich an den Emotionen, die er mit seinen Songs in die Wagschale wirft. Am Ende dann ein kurzes Klacken. Zack, boom, aus die Maus. Willkommen zurück in Gefühlswelten, welche die Rockmusik heute über weite Strecken hinter sich gelassen hat. „Daisy“ ist ein Manifest, das in elf Songs das gesamte Spektrum zeitgenössischer Rockmusik mit dem klassischen Grunge-Sound verknüpft. Wer seit einer gefühlten Ewigkeit mal wieder auf eine Rockband gewartet hat, die nachhaltig im Gedächtnis bleiben wird: hier hat er sie.
Ein neues Album von Pearl Jam ist derweil ja immer was Besonderes. Schade nur, dass den Jungs mit zunehmendem Lebensalter immer mehr die Energie flöten geht. Wobei?! Das war irgendwie auch zu verkraften, weil die Songs trotzdem so herrlich geerdet und anders klangen, als der ganze glatt produzierte Mist in den Charts. „Backspacer“ ist nun wieder ein geerdetes Werk geworden. Nur haben Pearl Jam seit ihren Anfangstagen nicht mehr so in die Instrumente gedroschen, wie jetzt. Fast bekommt man das Gefühl, als wolle da jemand seine zweite Jugend ausrufen. Die ersten vier Songs knallen so dermaßen rein, dass man sich einfach nur entspannt zurücklehnt, wenn Eddie Vedder mit „Just Breathe“ im fünften Song zum ersten Mal von einer akustischen Gitarre begleitet wird und „Stay With Me, You´re All I See“ ins Mikrofon schluchzt. Wie die Band diesen Song mit himmelhochjauchzenden Geigen zu Grabe trägt. Ein Wahnsinn. Ich bin so geplättet, dass ich aufpassen muss, nicht dem Strudel der Emotionen zu erliegen und diesen Befreiungsschlag hier einfach nur abzufeiern. Die zweite Hälfte der Scheibe startet dann etwas schwächer mit nostalgischem Geplänkel a la „Amongst The Waves“ oder dem radiotauglichen „Speed Of Sound“, aber mit „Unthought Known“ und dem atemlosen „Supersonic“ machen die Jungs klar, dass sie es noch mal wissen wollen. Die vielen Fans des „Into The Wild“-Soundtracks werden zwar von „Backspacer“ anfangs etwas vor dem Kopf gestoßen, dafür aber mit einen wunderbarem Rockalbum getröstet, das Pearl Jam auch für die nächste Generation interessant hält.
Im Manchester Orchestra geht es derweil ebenso turbulent zu, wie bei den Jungs aus Seattle. „Mean Everything To Nothing“ hat das Zeug, der sympathsichen Crew auch hierzulande eine breite Fanbase zu bescheren. An die quietschfidele Stimme von Sänger Andy Hull muss man sich zwar ähnlich, wie bei Portugal, The Man, erst einmal gewöhnen, doch schon beim zweiten Track ist man mittendrin in dieser orchestralen Umlaufbahn der Glückseligkeit. Die meisten Songs wirken, wie Helium-Ballons, die beim Eindringen in die Erdatmosphäre in Großaufnahme zerplatzen. Die Tracks sprühen so dermaßen vor Energie und sind so druckvoll arrangiert, dass man gar nicht mehr genug bekommt von all den spröden Melodien, die einen ganzen Konzertsaal in ein Wellenbad transformieren, wenn am Ende alle Gäste ihre Hände gen Clubhimmel reißen. Jetzt einfach noch auf die Bühne stürmen und sich in die ausgestreckten Arme der Zuschauer stürzen. Manchester Orchestra wirken wie Brand New und Kings Of Leon in einem, die gemeinsam durch ein Sturmgebiet hetzen. Die dynamischen Songs machen einen atemlos. Trotzdem entpuppen sich Tracks, wie „Shake It Out“ und „I´ve Got Friends“ schon nach wenigen Durchläufen als astreine Hymnen, die all den Chemical Romances und Fall Out Boys vor Augen führen, wie man heutzutage noch Rockmusik von Relevanz aus den Boxen ballert.
Und wo wir gerade dabei sind. Das fröhliche Treiben kann man dann hinterher gleich fortsetzen mit den Jungs von Findus. Die klingen auf „Sansibar“, als wollten sie Superpunk und der Rockformation Discokugel Konkurrenz machen. So einen beschwingten BeatPunkMod-Tune habe ich schon lange nicht mehr gehört. „Meine Freunde trinken zu viel Alkohol und ich kann nicht mehr stehen“ und dann ab dafür. Diese Scheibe will gefeiert werden. Da wankst du freudetrunken durch die Straßen und schreist dir die Seele aus dem Leib. Wenn die Jungs dran bleiben, steht ihnen vielleicht nicht zwangsläufig eine große Karriere bevor, aber sie werden in jedem Kellerloch von Disco gefeiert werden, als wären sie das Licht am Ende des Tunnels. Also komm schon, worauf wartest du: Segel setzen und volle Kraft voraus.
Was wiederum mit den Noisettes los ist, das muss ich jetzt erst einmal verarbeiten. Die auf Dauerrotation geschickte Über-Single „Never Forget You“ läuft auf allen Radiostationen rauf und runter und auch der Rest des Albums „Wild Young Hearts“ strotzt nur so vor radiotauglichem Disco-Pop. Jegliche Punkrockelemente, die den Vorgänger mit ihren unberechenbaren Ausbrüchen so glänzend gerieten ließen, wurden auf dem neuen Album über Bord geschmissen, wie schimmliges Obst. Stattdessen ergötzt sich die Band nun an ganz großen Pop-Melodien, die sie auf dem Vorläufer noch hinter einer großen Portion Krach versteckt haben. „Wild Young Hearts“ macht Schluss mit dieser Verschleierungstaktik. Die Platte ist ganz großes Kino fürs Nachmittagsradio. Sie tut keinem weh und funkelt wie eine nimmermüde Discokugel, die nächtelang auf Endlosschleife rotiert. Das Schöne an „Wild Young Hearts“ ist allerdings, dass man direkt nach dem ersten Schockmoment, in dem man denkt, man habe mit den Noisettes mal wieder eine gute Band an die Industrie verloren, dass man in diesem Augenblick, wie schon beim letzten Album von Rilo Kiley, durchaus mit den Songs warm wird, wenn man den Stücken eine Chance gibt. Nach und nach wirken die werten Noisettes nämlich wie Amy Winehouse im Gitarrenmantel. Die Energie schlummert zwischen den Zeilen. Im treibenden Gitarrensolo von „Beat Of My Heart“ oder in den gelungenen Texten, die das poppige Kleid immer wieder ad absurdum führen. Alles in allem ein Nachfolger, der überrascht. Und am Ende ein durchaus gelungener Szenen-Wechsel.
Unterkühlte Elektronik bekommt man derweil von Marsheaux aufs Tablett serviert. Die beiden Mädels Marianthi und Sophie spielen auf ihrem Album „Lumineux Noir“ mit den Phantasien des Hörers und fabrizieren ein Handvoll aufreizender Elektro-Pop-Momente. Drei Songs lang klingt das dann auch wirklich spannend und mitreißend, nur leider sind Marsheaux noch nicht The Knife und dementsprechend stellt sich fortwährend immer größere Gleichgültigkeit beim Hörer ein. Die Parallelen zum Sound von Client, deren letztes Album ebenfalls an fehlendem Abwechslungsreichtum krankte, sind unüberhörbar. Trotzdem entpuppen sich einzelne Tracks, wie „Stand By“ und „Breakthrough“ dosiert auf einem Mixtape eingesetzt als bunt blitzende Stimmungsraketen, die jedes Wohnzimmer in einen Tanztempel transformieren. Kurz gesagt: wer auf poppige Melodien mit synthetischem Wumms steht. Hier gibt’s die Vollbedienung in 13 Akten.
I Might Be Wrong begeben sich derweil auf die Suche nach dem perfekten Loop. Auf ihrem neuen Album „Circles The Yes“ wird mal wieder Ping Pong gespielt mit den Fingerkuppen des Hörers. Als wollte sie einen musikalischen Handkuss vollführen, wirft einem Lisa von Billerbeck mit ihrer sanften Stimme einen betörenden Blick nach dem nächsten zu. Das Ganze manifestiert sich in elektro-verpoppten Momenten, die reduziert und atmosphärisch zugleich wirken und dabei immer wieder von der Stimme der Protagonistin in ein wohl behütetes Licht getaucht werden. Die soundtechnischen Eskapaden von I Might Be Wrong können einem dabei zwar bisweilen etwas schleierhaft vorkommen. Ist man aber bereit, sich auf die abwegigen Spielereien einzulassen, welche da im Hintergrund ablaufen, dann entpuppt sich das neue Album als durchaus schlüssiges Werk, dessen wahre Größe sich vor allem bei nächtlichen Autofahrten über einsame Landstriche offenbart.
Die Post-Ramones von Teenage Bottlerocket widmen sich derweil auf ihrem neuen Album ganz der punkrockigen Glückseligkeit. Soll heißen, Strophe Refrain, Strophe, Oh Oh Oh Oh Oh Oh Ooooooh, wo waren wir noch gleich? Ach ja, Refrain, Strophe, Refrain mit Abschlusschören. Das macht Spaß, das zaubert ein fettes Grinsen ins Gesicht. Das ist der perfekte Soundtrack zum Iro frisieren. Dazu kann man ganz hervorragend in die breit ausgestreckten Arme des Gegenübers hüpfen und Arm in Arm um die Wette brüllen. „They Came From The Shadows“ springt einem regelrecht ins Gesicht. Zu dieser Musik möchte man Straßenschilder erklimmen, Wände bemalen, halbnackt durch Fußgängerzonen rennen und im Antlitz der Sonne auf dem nächsten Hausdach die Revolution ausrufen. Nach vierzehn Songs ist der Hitreigen dann zu Ende. Und du stehst da, als hättest du gerade zum ersten Mal seit vielen Jahren ein Pop-Punk-Album gehört, dass diesen Namen auch verdient hat. Umwerfend, diese Jungs. Deshalb unbedingt mal den Backkatalog checken, das werd ich jetzt nämlich auch machen… Fat Wreck Chords, herzlich willkommen zurück in meinen Herzkammern. Da geht einiges. Deshalb macht mal wieder richtig Party. Bis zum nächsten Zuckerbeat.
UND WAS NUN?