Koch die Würstchen nicht zu heiß, sonst platzen sie!
Zur Mittagszeit, so hatte es geheißen, würde vielleicht ein Lastwagen vorbeifahren, der ihn mitnehmen könnte.
Aber bevor dieser kommt, will ihm noch jeder viel Glück wünschen. Ihm, der von zu Hause weggehen will, weg: von den trüben Wasserlöchern – das Wasser, das blind macht -, von den dürren Ziegen, die sich am scharfen Steppengras die Zungen wund reißen, von den verstaubten Feldern, wo die Hirse längst keinen Halt mehr findet.
Ich, Ben, einfach nur Ben, will weg von den Wellblechhütten und meiner zerschundenen Sippe. Man sagt, dass ich kräftig bin und hübsch. Ein Mann kam in unser Dorf, der hat mir gesagt, wohin ich muss, wenn ich fort will. Dahin fahre ich jetzt. Alle haben für mich zusammengelegt, damit ich dorthin kann, wo es schön ist.
Sie lächeln versonnen, während sie ihn umarmen.
„Du wirst es ganz bestimmt schaffen.“ „Die brauchen dich da.“ „Wenn du das nicht schaffst, kann es keiner schaffen.“ „Denk an uns, wenn du dort bist.“ „Die freuen sich auf dich.“ „Das kann nur gut gehen.“
Ein Geheule erhebt sich, als der Lastwagen in der Ferne auftaucht. Aber es braucht lange, bis das alte Auto in ihrem Dorf ankommt. Am Horizont geht gerade die Sonne blutrot unter.
Ben klettert lachend zum Fahrer in den Wagen und winkt so lange, bis er sie nicht mehr sehen kann.
„Wo geht´s hin?“ fragt der Fahrer. Man versteht kaum, was er sagt, denn eine eitrige Wunde im Mundwinkel erschwert ihm das Reden.
„Algier,“ sagt Ben wage.
Der Fahrer lächelt träumerisch, sagt aber nichts weiter.
Die Fahrt dauert lange, doch niemals fällt es Ben ein, irgendwo anders zu bleiben. Wenn der Fahrer in einer Stadt anhält, um dort etwas Geschäftliches zu regeln, geht Ben auf Arbeitssuche. Meis-tens nach zwei Tagen fahren sie weiter. Oft läuft nur das Radio und sie schweigen. Amerikanische Musik hört der Fahrer am liebsten. Die Farbe der Sandkörner wechselt, die ausgebleichten Tiergebeine beiderseits der Straße sind immer weiß.
Vom Lastwagen wechselt Ben auf einen rostigen Fischkutter, der völlig überladen ist mit Menschen. Sie quellen aus allen Luken und Ritzen hervor. An Schlaf ist hier nicht zu denken. Zum Trost versichert man den Reisenden, dass es nicht lange dauern wird. An Bord sind nur junge Männer, die wissen, dass sie es schaffen müssen. Zu groß ist der Einsatz von Zuhause. Zu gering sind die Aussichten in der Heimat. In ihnen lodert ein gewaltiges Feuer, das so hoch zum Himmel züngelt, dass es Gott einfach nicht übersehen kann.
Sie haben kein sauberes Wasser, kein Essen, keine Medikamente. Bei Sturmgang kotzen sie den Boden voll und man kann nur hoffen, dass der Regen es wieder wegwäscht. Keiner bemerkt die verloren gegangenen Menschen, die der Ozean verschluckt. Es stinkt und die meiste Zeit vegetieren sie vor sich hin wie alte Tiere.
Zwei waren am Salzwasserrausch verendet.
Das Geisterschiff ist vom Wind in einen italienischen Hafen getrieben worden. Noch immer lodert das Feuer der Hoffnung an Bord, das vom Sturm und vom Regen nicht ausgelöscht werden konnte.
Italienische Hilfskräfte schleppen die Scheintoten vom Kutter und desinfizieren anschließend das Schiff. Die Hilfskräfte sind in Plastik gehüllt, die schwarzen Männer in Decken. Heute ist das Interesse der Presse mäßig. Es werden wenige Fotos geschossen. Schon zu lange werden Leichen an die Strände gespült. Mit dieser Nachricht lässt sich kein Blumentopf gewinnen.
Unser Ben, den wir von Anfang an begleitet haben, liegt auf einer Pritsche in einem abgedunkelten Raum. Zwei Wochen sind verflossen seit damals. Er wacht auf und blinzelt.
Ich lebe, denkt er begeistert. Ich habe es geschafft! Ich bin dort, wo ich hin wollte. Ich lebe!
In der Wand ist ein kleines Fenster eingelassen, vor dem Gardinen hängen. Obwohl Ben das Aufstehen eigentlich zu diesem Zeitpunkt unmöglich ist – seine Fußfesseln sind groß wie Honigmelonen -, will er doch aufstehen und hinaus schauen. Er kriecht und kraucht und schnauft. Es dauert lange, bis er es geschafft hat. Schwankend steht er am Fenster.
Saubere Gardinen, freut er sich und riecht gierig am Stoff. Er zieht die Vorhänge bei Seite. Das grelle Sonnenlicht lässt ihn blinzeln.
Jenseits des Fensters, weit weg, wachsen Zitronenbäume. Autos rauschen über eine Schnellstraße, aber alles passiert hinter dem hohen Zaun. Ben merkt, dass sich ein Schummer in seinem Körper ausbreitet. Obwohl es ihm immer schwerer fällt, gerade zu stehen, hält er sich dennoch aufrecht wie ein Zinnsoldat und schaut hinaus. Er bewundert das Grün der Bäume und Gräser. Als eine Ohnmacht ihn zu übermannen droht, krallt er sich an der unverputzten Wand fest, weil er das alles für immer angucken will. Dieses propere Glück.
Zwei Tage später, gerade, als die Sonne ihren höchsten Punkt erreicht hat, nimmt er zum ers-ten Mal den schlanken, braungebrannten Herrn wahr, der sich um ihn kümmert.
Ben bemerkt – was er sehr lustig findet, dass der Mann genau so groß ist wie er selbst.
Ben kann ein wenig Englisch und der Mann ist sehr geduldig und spricht langsam, damit Ben ihn versteht. Der Mann ist Arzt und trägt immer einen schwarzen Koffer bei sich. Niemals ist der Doktor unfreundlich. Er verströmt Wärme und Ben mag ihn sofort. Er genießt es, wenn der Arzt ihn besucht, den Puls misst, Wunden kontrolliert, das Fieber.
Der Doktor kommt jeden zweiten Tag, aber er wird immer schweigsamer, je besser es Ben geht. Das verwundert Ben.
Ein mausgrauer Herr im abgerissenen Anzug tritt in Bens Zelle und legt ihm Papiere vor, die er unterschreiben muss. Auch seinen Fingerabdruck muss Ben abgeben. Das alles ist auf Englisch und er versteht nicht viel, was er unterschreibt. Aber eine Tatsache kristallisiert sich heraus: Ben wird in einer Woche zurückgeflogen. Das durchfährt ihn wie ein Blitz.
Hilfe!, denk er.
Ben weißt nicht, was er tun soll. Ist er doch so kurz vor dem Ziel gescheitert. Er versteht es nicht.
Ich habe versagt, denkt er verzweifelt. Das, nach all dem, was sie für mich getan haben. Ich kann nicht nach Hause.
Ben weint, obwohl er noch nie in seinem Leben eine Träne vergossen hat. Er schläft schlecht, die Wunden tun plötzlich weh, jede Minute glaubt er, dass sie ihn holen. Die Warterei in der engen Zelle mit verführerischem Blick auf Zitronenbäume macht ihn wahnsinnig. Er schaut gar nicht mehr durchs Fenster. Am liebsten würde er sich durch die Mauer beißen und wegrennen oder sich umbringen, aber es bietet sich ihm keine Gelegenheit.
Eines Tages, als der Doktor ihn besucht, hat Ben einen Plan gefasst. Der ist kühn und gefährlich, aber Ben hat nichts zu verlieren. Es tut ihm ein wenig leid um den Doktor.
Der Arzt beugt sich über ihn und schaut mit einer kleinen Lampe in Bens Rachen. Auf Bens Stirn steht der Schweiß. Jetzt oder nie, doch noch fehlt ihm die Kraft. Die Angst absorbiert sie.
Plötzlich ist sie da. Die Kraft. Sie legt sich ihm in die Hand. Es fühlt sich an, als ob eine Zikade über seinen Handrücken krabbelt. Er ballt die Hände zu Fäusten, Adrenalin schießt durch seine Adern. Jetzt geht alles schnell und wie geschmiert.
Bens Plan: Ich muss es nach draußen schaffen. Der einzige Mensch, der zwischen drinnen und draußen ungehindert hin und her geht, ist der Arzt.
Ben war gut im Gnu töten und häuten. Er denkt sich: Mensch und Tier. Das macht keinen Unterschied.
Folgendermaßen geht er vor: Er tötet den Doktor, was keine große Schwierigkeit ist. Man muss nur dessen Kopf gegen die Wand stoßen. Der Doktor ist sofort tot. Dann sucht Ben nach einem scharfen Skalpell. Der Arzt hat immer einige zum ambulanten Operieren bei sich. Säuberlich, beginnt er den Doktor zu häuten. Nachdem die Haut abgezogen ist, wäscht er sie im Waschbecken seiner Zelle. Der Rest, der vom Doktor übrig geblieben ist, muss verschwinden. Die vielen Liter Blut hat Ben ins Waschbecken fließen lassen. Den größten Teil des Arztes muss er essen – das ist ekelhaft – und die Knochen und Organe verbrennen. Er hofft, dass man das Feuer schnell entdecken wird. Das Fleisch des Doktors ist zäh. Ben muss sich erbrechen.
Als er fertig ist, schlüpft er in die Haut des Doktors, die ihm fabelhaft passt.
Die Zelle sieht schrecklich aus.
Vorsichtig bewegt Ben seine weißen Finger. Die Haut schmiegt sich weich an ihn.
Nun kommt der schwierigste Teil. Er muss sich die Zunge abschneiden, da er die Stimme des Doktors nie bekommen wird.
Die Schmerzen kaum ertragend, schleppt sich Ben zum Müllkorb, den er unter dem Waschbecken versteckt hat und zündet ihn an. Dann schließt er die Zellentür auf und kriecht hinaus, in den leeren Gang. Er gibt entsetzliche Laute von sich. Gurgelt. Aus seiner Zelle quillt Qualm. Blutverschmiert wird Ben im Gang ohnmächtig. Der Feuermelder springt an.
Ben erwacht in einem weichen Bett. Sein Kopf fühlt sich schwer an, der Mund tot. Es riecht süßlich im Zimmer, nach Blumen. Mühsam dreht er seinen Kopf. Neben dem Bett sitzt eine junge Frau, deren Gesicht vom Weinen verquollen ist. Sie streichelt ihm die Hand. Ein kleines Mädchen steht bei ihr und spielt mit einer Puppe. Ben lächelt selig und die Frau bricht in Tränen aus.
Hier möchte ich mit meiner Geschichte abbrechen, weil dieses Ende ein schönes Ende ist.
Ich sollte kurz für die kritischen Leser anmerken, was später noch geschah: Ben hat es geschafft. Er ist gesund geworden, bis auf seine Zunge. Ben ist ab da an stumm. Außerdem gibt er vor, sich an nichts zu erinnern. So hatte er Zeit, Sprache und Sitten zu lernen. Er spielte die Rolle des Doktors perfekt und selbst seine Ehefrau schöpfte niemals Verdacht. Die Fandung der Polizei nach Ben wurde nach zwei Jahren erfolglos eingestellt. Je länger Ben als Doktor lebte, desto mehr vergaß er, dass er eigentlich kein Europäer war. Er starb als früh pensionierter Arzt im Alter von einund-achtzig Jahren. Er hinterließ eine Frau und drei Kinder, ein Weißes und zwei Schwarze.
Sein Betrug ist nie aufgeflogen.
// von johanna schricker
// foto britta manger
UND WAS NUN?