So richtig fassen kann man es ja noch nicht, dass Console tatsächlich noch mal ein neues Album an den Start gebracht haben. Jeder langjährige Indie-Disco-Gänger wird heute noch feuchte Hände bekommen, wenn ihre beiden größten Hits „14 Zero Zero“ und das „Freiburg“-Remix von Tocotronic die Tanzfläche fluten. Nun erscheint „Herself“ und spannt die Fans erst einmal mit seinem flächigen Auftakt auf die Folter. Martin Gretschmann und Miriam Osterrieder setzten zunehmend auf Atmosphäre, verknüpfen die dichte Stimmung mit einer Portion Pop-Appeal und schaffen es auf diese Weise, dass der zweite Track und größte Hit des Albums („A Homeless Ghost“) klingt, als hätten sich Sophia dazu entschlossen, in einem Elektro-Club einzulaufen. Console umschmeicheln ihre flächigen Songs immer wieder mit zauberhaften Gesangsmelodien, so dass nicht nur Ambient-Anhänger, sondern auch Pop-Fans auf ihre Kosten kommen werden. Alles in allem schleicht sich „Herself“ in diesem Zusammenhang eher langsam an einen heran, anstatt dem Hörer mit großen Melodien um den Hals zu fallen. Der Teufel steckt im Detail und die Stücke wachsen mit jedem weiteren Durchlauf über sich hinaus. „Herself“ ist ein Album für Menschen, die sich gerne mal aus dem schnelllebigen Pop-Kosmos ausklinken, die sich einfach mal wieder aufs Sofa knallen möchten, um die Augen zu schließen und zu genießen.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, die vorab veröffentlichten Tracks, die Kanye West in den letzten Wochen immer wieder für umme raus gehauen hat, sprachen eine deutliche Sprache. Wer so viel Kreativität im Wochenrhythmus verschleudert, der befindet sich gerade auf dem Höhepunkt seines Schaffens. Nach dem experimentierfreudigen Vorgänger hat sich Kanye West nun wieder auf seine Paradedisziplin besonnen und knallt uns ein Werk vor den Latz, dass dort anschließt, wo er mit „Graduation“ aufhörte. Nachdem man den Vorgänger „808s & Heartbreak“ vor allem für seine Kompromisslosigkeit lieben musste, mit der sich der Künstler allen Erwartungen verschloss, liegt man ihm nun wieder für seine Songs zu Füßen. „My Beautiful Dark Twisted Fantasy“ ist ein spektakuläres Werk. Es kann es locker mit dem ebenso wegweisenden „Graduation“ aufnehmen, es übertrifft die Scheibe sogar ein bisschen in Sachen Größenwahn und das nicht nur bezüglich des Artworks, welches im HipHop-Kontext nahezu visionär anmutet. Dieses Album strotzt nur so vor kreativen Momenten. Was West hier in dem beinahe siebenminütigen Knaller „Monsters“ mit illustren Gaststars, wie Jay-Z, Rick Ross, Nicki Minaj und Bon Iver an kreativen Zeilen ins Rapuniversum spuckt, dass sorgt für sabbernde Mäuler bei den Kopfnickern. In diesem Album steckt dermaßen viel Potenzial, dass einem nach dem ersten Durchlauf beinahe schwindelig ist. Dabei läuft die Scheibe aber nicht, wie die ersten beiden Alben, gegen Ende hin ins Leere, nein, mit zwei grandiosen Songs (unterstützt von John Legend und Bon Iver) macht er nach dem reimtechnischen Rundumschlag deutlich, dass er auch große Balladen schreiben kann, ohne dabei in Kuschelrock-Gefilden zu verenden.
Wolfgang Herrndorf hat derweil eine bemerkenswerte Herbstlektüre aus dem Ärmel geschüttelt. Im Stil eines modernen Abenteuer-Romans lässt er „Tschick“ alias Andrej Tschichatschow mit einer geklauten Karre und seinem Klassenkameraden (unserem Protagonisten) Maik, den alle in der Klasse nur „Psycho“ schimpfen, durch die Gegend kurven. Herrndorf gelingt es, die Welt aus der Sicht eines Vierzehnjährigen darzustellen und eben daraus zieht dieses Buch seinen Reiz. All die Geheimnisse des Lebens müssen Selbigem erst noch entlockt werden. Das vordergründige Desinteresse wäscht sich ab wie eine Clownsmaske und weicht echter Neugier: Auf die Liebe. Auf das Leben. Kurz gesagt: Auf alles, was es in jungen Jahren eben so mitgenommen wird. Kein Wunder, dass der Roman bisweilen mit Salingers „Fänger im Roggen“ verglichen wird. Dazu ist das Buch aber auch noch äußerst schmissig geschrieben. „Woher weiß ich überhaupt, dass das ein Arzt ist? Er trägt einen weißen Kittel. Könnte also auch ein Bäcker sein“. Mit jugendlichem Scharfsinn stolpert Maik durch das Geschehen und merkt, dass man sich manchmal einfach durchwuseln muss. Dabei strahlt der Roman immer eine gewisse Zeitlosigkeit aus, die Geschichte hätte nämlich genauso vor zwanzig Jahren spielen können, wenn nicht in Nuancen immer wieder Handys und zeitgenössische Seitenhiebe auf die Popkultur zur Sprache kämen.
Einen weiteren Aufruf in Sachen *Auszeit vom Alltag* bekommt man hinterher von Lucy Fricke auf dem Silbertablett serviert. „Ich habe Freunde mitgebracht“ klingt nicht nur vom Titel her nach revolutionärem Lesestoff. Auch inhaltlich setzt sich die Schriftstellerin mit nicht mehr ganz so jungen Menschen auseinander, die sich ans Scheitern bereits gewöhnt haben und deren Werte sich einfach nicht mehr in unserer Gesellschaftsstruktur abbilden. In dem Roman steht, wie auch in „Tschick“, ein Road-Trip im Mittelpunkt. Dabei gibt sich Fricke viel Mühe, die Ausweglosigkeit, mit der sich unsere Protagonisten konfrontiert sehen, mit einer gehörigen Portion Humor zu kontern. Einen Trümmerhaufen kann man schließlich wieder aufbauen, lautet die Vorgabe, doch denkste. Unsere Helden wagen den Ausstieg. Das spießige Dasein kann sie mal am Popo knutschen, dementsprechend mag manche Passage vielen Lesern sicher ein wenig illusorisch vorkommen. Trotzdem fühlt man sich von den Gemütszuständen der Motivationslosen immer wieder wohlwollend in den Arm genommen: „Sie klickte sich durch den Ticker, las die Headlines und stellte fest, dass ihr die Welt zunehmend am Arsch vorbei ging“. Es sind solche Sätze wie diese, an denen man sich wärmen möchte. Zudem gibt einem dieser Roman das Gefühl, dass es da draußen durchaus Alternativen zum öden Alttag vorhanden sind und dass es vor allem darauf ankommt, den Mut zu haben, selbige auch anzunehmen. Alles in allem ist „Ich habe Freunde mitgebracht“ ein unbekümmerter und bisweilen melancholischer Zeitvertreib für all jene, die zwischen den Stühlen sitzen. Ein Buch gegen die Mutlosigkeit. Vielen Dank dafür.
The Indelicates haben sich durch ihren famosen Auftritt im Würzburger Jugendkulturhaus Cairo auch schon in unserer schönen Studentenstadt einen Namen gemacht. Nun knallen uns die Pop-Asten um Sängerin Julia und Gitarrist Simon Indelicate ihr zweites Album vor den Latz und dürften damit die Herzen alle Fans des kruden Humors von Art Brut und der Musik der Dresden Dolls geradezu im Sturm erobern. Mit Strick um den Hals, ordentlich Klaviergeklimper und einer dreiköpfigen Band im Hintergrund erzählen sie uns augenzwinkernde Geschichten über Europa und Jerusalem. Dazwischen wird Frank Sinatra und den Rolling Stones Referenz gezollt und zwar so, dass man sich sofort in das charmante Schlaumeiertum des Duos verliebt. „Songs For Swinging Lovers“ hört sich an wie Gonzales auf Indie-Trip. Und spätestens beim treibenden „You Money“ wippt auch die Tanztheater-Fraktion euphorisch im Takt.
Hinterher bleiben wir dann auch gleich auf der Theaterbühne und lassen uns von der spektakulären Show „YMA – zu schön, um wahr zu sein“ (eine Show des Friedrichstadt Palast) den Abend vertreiben. Bekannte Tracks, wie „Get The Party Started“ und „Ain´t Nobody“ werden ins Theatralische überführt und mit elektronischen Sperenzchen versehen. Dazu bekommt man einen noch unveröffentlichten Track von Tiefschwarz serviert und es werden bisweilen schöne Erinnerungen an das letzte Album von SALM wach, wenn das klassisch angehauchte „Adagion Vocalise“ seine Schwingen ausbreitet. Alles in allem auch ohne das große Tohuwabohu auf der Theaterbühne uneingeschränkt zu empfehlen.
Depedro alias Jairo Zavalo verführt uns derweil auf seinem aktuellen Album in Liedermacher-Gefilde der Marke Calexico. „Nubes De Papel“, auf deutsch: „Papierwolken“, haucht einem zärtliche Melodien ins Ohr, die allesamt so dynamisch arrangiert sind, dass sich auch beim x-ten Durchlauf keine Langeweile einstellt. Stattdessen wird in Mariachi-Gefilden gewildert und mit Calexico Gründungsmitglied Joey Burns das Potenzial des örtlichen Aufnahmestudio bis zum äußersten Limit ausgeschöpft. Das Ergebnis ist verblüffend, ein herzerwärmendes Werk für die kalte Jahreszeit. Dazu pflegt man nur allzu gerne seine alljährlich wiederkehrende Herbstdepression.
Einen echten Liedermacher-Pop-Geheimtipp haben derweil vier junge Musiker am Start, die sich Brokof schimpfen. Die Scheibe ist ein gefundenes Fressen für alle Fans des letzten Albums von Kenneth Minor, es werden einem aber auch lärmige Passagen um die Ohren gepfeffert, die allen Fans von Deus das Herz öffnen sollten. „Softly, Softly, Catchee Monkey“ ist eines dieser Alben, das man nachts auf einer Studentenparty zufällig aufschnappt, das einen dazu bringt, sich in die nächste Sofaecke zu flaggen und das illustre Treiben um einen herum einfach mal als unbeteiligter Zaungast auf sich wirken zu lassen. Womit wir uns auch schon wieder verabschieden für heute. Genießt das Leben. Bis zum nächsten Zuckerbeat.
UND WAS NUN?