„Ich liebe dich; das weißt du doch, oder?“ Sie nickt. Ihre Hände, die zitternd in meinen liegen, werden warm und schwitzig. „Und glaubst du es mir auch?“
Sie nickt wieder, diesmal zögerlich. „Gut, das ist wichtig. Und jetzt lerne etwas übers Leben, Mädchen.”
Drei Minuten später hat mein Leben einen neuen moralischen Tiefpunkt erreicht; für meine Exfreundin sind die letzten Monate auf einen Schlag wie ausgelöscht, in ihrer Erinnerung wird nichts zurückbleiben außer einer Luftspiegelung, deren reales Äquivalent von nur wenigen Sätzen der Aufrichtigkeit mit dem Wind davongeblasen wurde.
Fast verstört es mich selbst, wie kalt es mich lässt. Doch das Tal, in das ich gerade wieder einen weiteren Schritt hinab gestiegen bin, liegt auch nur in einem vom Menschen eigenhändig aufgetürmten Gebirge, und die Reichweite der ethischen Sherpas ist groß: Die zutiefst empörte beste Freundin meiner Ex ruft mich an und schildert mir blumig das Ausmaß ihrer Verachtung. Leider erweist sich ihre Aufregung als wesentlich ausdauernder als ihre Eloquenz, es folgt die wütendste Pause, die ich je erlebt habe. Ich will ihr etwas auf die Sprünge helfen und erzähle von der geringen Bedeutung ihres Schmerzes vor dem Hintergrund des unendlichen Kosmos. Da findet sie zu ihrer Sprache zurück; unmittelbar vor dem Wiederertönen des Freizeichens erfahre ich, dass ich zu mehr nicht tauge als zur Produktion und Verbreitung gequirlter Scheiße.
Verblüfft überdenke ich unter Einbeziehung der neuen Erkenntnis mein Selbstbild. Das zwanzigste Jahrhundert hat uns gelehrt, dass Menschen mit diesem Makel frappierend viel Macht über die Gesellschaft ausüben können. Eine solche Karriere liegt mir jedoch fern; blicke ich an mir herab, zeigt sich mir auch nicht das Bild einer typischen Führungspersönlichkeit. An den Beinen trage ich beige-braunes Camouflage, ungewollt: ein undichter Kaffeebecher hatte mich sabotiert. Mein zu kurzes Tshirt reagiert mit erhobenen Armen zu einem entblößten Bauchnabel, und mein Schuhwerk könnte man eher als besohltes Paar Socken bezeichnen. Trotzdem war sie nicht der erste Mensch gewesen, der meinem Geschwätz die Macht gegeben hatte, ihm wenigstens vorübergehend seine emotionalen Heliumballons zu entreißen wie Schokolade einem kleinen Kind. Und während ich mit Genugtuung ihre Bestürzung zur Kenntnis genommen hatte, war mir völlig entgangen, dass eine Kanonenkugel, die auf dem Deck eines schwankenden Schiffes umherrollt und alles zerstört, was im Weg ist, auch die Missgunst der Matrosen auf sicht zieht.
Regt sich in mir nun leises Bedauern, dann auch jetzt sicher nicht ihretwegen. Aus Verachtung hatte ich immer mehr Abstand zwischen mich und die Menschen bringen wollen, doch nun, wo ich erkenne, dass der Weg zurück hinauf bei weitem nicht so einfach ist wie der hinab, muss ich begreifen, dass ich sie brauche, mehr als den Baum und die Sterne.
Doch es bleibt mir wenig, als den angefangenen Weg
weiter ins Tal zu gehen. Irgendwann wird kommen
eine Kurve, und ich kann mich verstecken vor dem
missbilligenden Blick der Moral und mich einfügen
in die dort wartende Gesellschaft der Geächteten.
// von dirk böhler
// illustration: tom würzburg
UND WAS NUN?