Der britische Allrounder Stephan Kelman hat sich derweil erstmal mit zahlreichen Halbtagsjobs herumgeschlagen, bevor er als Schriftsteller für sein Romandebüt „Pigeon English“ einen fetten Lorbeerkranz übergestülpt bekam. Das Buch dreht sich um einen 11jährigen Ghanaer namens Harri, der mit seiner Familie in einem Londoner Sozialbau unterkommt. Umgeben von Dealern und sonstigen, zwielichtigen Gestalten, überlegt er, wie er sein neues Leben auf die Reihe kriegen könnte und stolpert dabei über einen Mord. Ein 14jähriger wurde erschossen und Harri macht sich auf, zu erkunden, wie es nur soweit kommen konnte. „Wenn du einen Fuß in die Sperrzone setzt, zerfällst du zu Staub“ – der Satz, der sich auf der ersten Seite des Romans wieder findet, steht sinnbildlich für das Leben, das uns umgibt. Alles scheint irgendwie beschränkt zu sein. Ständig droht man an irgendwelche Grenzen zu stoßen, deren Sinnhaftigkeit einem nicht immer schlüssig erscheint. Auf der einen Seite gibt es diejenigen, die sich arrangieren. Die akzeptieren, dass die Dinge nun mal so sind, wie sie sind. Es gibt aber auch diejenigen, die sich wehren. Die hinter die Kulissen blicken, um zu sehen, was das System im Innersten am Laufen hält. Harri wiederum zählt zu Letzteren und startet fortan seinen Streifzug, unbekümmert und naiv beginnt er zu ermitteln und muss nach und nach feststellen, dass diejenigen, die sich dem korrupten System nicht zu unterwerfen bereit sind, ihr eigenes Leben aufs Spiel setzen. Was also soll er tun? Sich eingliedern oder gegen das Böse kämpfen? Wer ein gewisses Faible für Krimiserien der Marke „The Wire“ mitbringt, sollte in diesem Zusammenhang unbedingt mal nachforschen. Es lohnt sich. Ein bemerkenswertes Debüt.
Mark Watson setzt sich derweil mit „Elf Leben“ auseinander, elf Menschen, die sich zwar nicht persönlich auf dem Schirm haben, deren Schicksal aber unweigerlich miteinander verknüpft ist. Die Geschichte dreht sich um Xavier, einen Menschen, der sich jede Nacht im Rahmen seines Jobs Geschichten anhört. Er arbeitet bei einem Londoner Radiosender und moderiert eine Sendung, in der nachts unter dem Schutzschirm der Anonymität verschiedene Menschen ihr Leben und Leiden zum Besten geben dürfen. Wobei es im Leben unseres Radiomoderators ebenfalls nicht immer glatt gelaufen zu sein scheint. Eine Leerstelle klafft in seinem Lebenslauf zwischen seinem heutigen Dasein und dem Leben, das er in seiner ehemaligen Heimat Australien führte. Warum hat er nur all seine Freunde und Bekannte hinter sich gelassen, um noch mal von vorne zu beginnen? Warum ist er zum stillen Beobachter geworden, anstatt sich wieder in dieses Wagnis zu stürzen, welches sich so leichtfertig Leben schimpft. Schon die erste Seite des Romans macht deutlich. Unser Protagonist ist auf Distanz gegangen. Wie er den Schneeflocken beim Fallen zusieht, wie er aus dem Fenster blickt und sich vorstellt, was für ein Chaos morgen früh im Berufsverkehr herrschen wird. Das ganze Leben scheint von Xaviers Existenz abgetrennt zu sein. Er hat es sich gemütlich gemacht in der Rolle des Beobachters, des Zuhörers. Er ist nicht mehr in greifbarer Nähe für Andere, wobei diese Fassade natürlich im Lauf des Textes zu brökeln beginnt. Die Liebe holt ihn ein. Und konfrontiert ihn. Mit Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. In „Elf Leben“ geht es um Situationen des Stillstands und Momente der Entscheidung. Um L(i)eben und l(i)eben lassen. Wie sich Xavier letztlich entscheidet und was das für einen Einfluss auf die Menschen um ihn herum hat? Am Besten du findest es selbst heraus. Den Worten eines Komödianten wie Mark Watson in einem solch melancholieverliebten Kontext zu lauschen, entpuppt sich nämlich als äußerst spannendes und noch dazu überraschendes Unterfangen.
Nun kommt also mit einiger Verzögerung endlich auch der 13. Fall von Commisario Montalbano für den deutschen Leser auf den Markt (zum Vergleich: in Italien ist im Jahre 2010 bereits der 17. Fall erschienen). Der Autor Andrea Camilleri (* 1925) hat sich inzwischen auch hierzulande zur literarischen Größe gemausert – wurden doch vier Fälle im ZDF ausgestrahlt. Im aktuellen Roman findet Commisario Montalbano eines Morgens, nachdem er die Nacht über schlecht geschlafen hat, ein brutal getötetes Pferd vor seinem Haus am Strand. In der Zeit, die er braucht um seine Kollegen herzubitten und sie über den Fund zu informieren ist der Kadaver aber bereits wieder verschwunden. Als Montalbano schon eine konkrete Vermutung und diverse Verbindungen zu einem früheren Fall ermittelt, wird wieder ein Toter aufgefunden. Zu allem Überfluss wird außerdem auch noch in seinem Haus eingebrochen. Andrea Camilleri hat mit „Die Spur des Fuchses“ wieder einen spannenden Roman mit einem von Alterserscheinungen heimgesuchten Montalbono, abgeliefert. So wie die Leser es liebt, ist wieder das ursprüngliche Sizilien, mit seinem Dialekt, den Gerüchen und den einzigartigen Gerichten, Hintergrund dieses Kriminalromans. Das macht das Buch zur nahezu perfekten Lektüre, um sich jetzt schon mal auf den anstehenden Sommerurlaub einzustimmen. (K. Reschke)
In „Trieb / 13 Storys“ dreht sich derweil alles um die Abgründe unseres menschlichen Daseins. Um Hoffnungen und Träume, um Zwangshandlungen und Leidenschaften, um Obsessionen und Rauschzustände. Im Mittelpunkt der 13 Kurzgeschichten stehen Paare, deren Leben plötzlich einen Knacks erfährt. Irgendetwas scheint nicht mehr ganz rund zu Laufen in ihrem Leben und am Ende bekommen sie dafür einen Zweizeiler geschenkt im hinteren Bereich irgendeiner lokalen Gazette, der lediglich die Tat / Schrägstrich den Vorgang schildert, nicht aber, wie es eigentlich dazu gekommen ist. Jochen Rausch wagt sich nach seinem Romandebüt „Restlicht“ mit seiner Geschichtensammlung ziemlich weit raus. Er versucht zu umreißen, warum Menschen Dinge tun, die sie eigentlich nicht tun sollten. Warum sie morden, hassen, lieben, nach Luft schnappen und wie plötzlich alles miteinander verschwimmt. Er versucht plausibel zu machen, was kaum nachzuvollziehen ist. Nach den einzelnen Kapiteln erfährt man jeweils in einigen Sätzen, was übrig blieb, nachdem das Geschirr zerdeppert worden ist. Man macht sich so seine Gedanken über das Leben und die Abgründe, die wir hinter schicken Fassaden zu verbergen versuchen. Man denkt ständig über diesen einen Satz nach, diese zehn Worte auf dem Rücken des Buches: „Menschen tun manchmal sehr krasse Dinge. Aber es sind Menschen“. Der „Trieb“ ist ein schonungsloses Buch.
Alljene, die sich schon seit Langem nach dem guten, alten Tapedeck zurücksehnen und stundenlang vor dem Player ausharrten, um der Herzallerliebsten mit hemmungsloser Hingabe eine Kassette zusammenzustellen, welche all ihre Emotionen, die sie sonst nie in Worte fassen konnten, in sich vereint. All jene werden das neue Sammelalbum von Romantexter Jan Drees (FAZ, Rolling Stone, Raveline) & Indie-DJ Christian Vorbau (der sich für die wunderbare Party-Reihe „King Kong Kicks“ verantwortlich zeigt) auf der Stelle ins Herz schließen. „Kassettendeck“ ist eine Hommage an die Analogie / Schrägstrich das Analoge. An eine Zeit, in der Musik noch nicht jederzeit für jeden greifbar war und B-Seiten wie intime Schätze vor der Außenwelt gehütet wurden. Der Sammelband schmeißt derweil mit großen Namen wie Bret Easton Ellis, Hans Nieswandt und Benjamin von Stuckrad-Barre um sich. Sogar Smudo und das Elektro-Label „Audiolith“ haben sich breit schlagen lassen, ihren Senf zum Thema „Kassettendeck“ dazu zu geben. Im Großen und Ganzen soll mit den Texten die Vergangenheit der Kassette umrissen werden. Wie schon bei der Compilation „Punk & Stories“ sind es aber vor allem die persönlichen Momente, die diese Textsammlung zu einem „Gesamtkunstwerk“ machen (wie auch „Airen“ so schön schreibt). Man erfährt zum Beispiel, wer von den Textern früher heimlich die erste „Kuschelrock“-Scheibe auf Tape überspielt hat oder wie das so ist, mit… Mädchen, Jungs und der Musik. In diesem Roman werden Klischees gefeiert und kurz darauf wieder zu Grabe getragen. Alles steht gleichberechtigt nebeneinander. Und wer Interesse daran hat, bekommt auch allerhand potenzielle Lieblingsmixtapes vor den Latz geknallt, die er sich dann auf C90 / C60 / C120 überspielen darf, wenn er es denn schafft, die ganzen alten Songs zusammenzukratzen. Alles in allem ist „Kassettendeck“ ein äußerst liebenswerter Sammelband über die Ära der Musikkassette, auch wenn es ein paar Zeichnungen weniger (das Buch strotzt nur so vor Illustrationen, die sich noch dazu ständig wiederholen) sicher auch getan hätten. Dennoch: äußerst liebenswert zusammengestellt, diese Werkschau… wie ein gutes Mixtape eben auch. Und damit Schluss für heute. Bis zum nächsten mal.
UND WAS NUN?