Die Stadt „Shenzhen“ kann als Sinnbild für den gesellschaftlichen Wandel Chinas gelten. Das Pro-Kopf Einkommen in der Metropole liegt weit über dem Durchschnitt des restlichen Landes. Überall schießen Wolkenkratzer aus dem Boden. Die Wirtschaft boomt und die Bevölkerungszahl explodiert. Der perfekte Ort also, um nach einem Abstecher dorthin, mal ein wenig aus dem Nähkästchen zu plaudern. Der kanadische Zeichner Guy Delisle hat eben das gemacht. Er hat einen bildhaften Reisebericht über die Stadt verfasst, nachdem er dort für eine belgische Produktionsfirma die Herstellung von Zeichentrickfilmen organisierte. Seine Graphic Novel strahlt in diesem Zusammenhang immer eine gewisse Distanz zum Alltag in Shenzen aus. Das wird vor allem in den Momenten deutlich, wenn es ihn vor Einsamkeit fast zerreist oder die Sprachbarriere zu Missverständnissen führt. Der anfängliche Überschwang des Protagonisten weicht mit zunehmender Dauer einer gewissen Ernüchterung darüber, dass es scheinbar keinen Platz für ihn in dieser Metropole zu geben scheint (was im gewissen Maße wahrscheinlich auch der spröde Zeichenstil reflektiert). Die kulturellen Unterschiede scheinen für ihn selbst eine allzu hohe Hürde darzustellen, wobei hier durchaus erwähnt werden sollte, dass er sich bemüht, dem ganzen Unterfangen immer mit einem Lächeln auf den Lippen zu begegnen. Am letzten Tag wirkt es dann fast ein bisschen wie eine Art Erlösung, als Guy Delisle der Stadt den Rücken kehrt. Und eben deshalb ist „Shenzhen“ auch eine Geschichte, die man allen Fans des Streifens „Lost In Translation“ ganz innig ans Herz legen möchte. Auch hier hat sich nämlich Melancholie eingeschlichen, wo einst Hoffnungsschimmer flackerten.
Ebenfalls im Rahmen der SZ-Bibliothek wurde nun die wunderbare Graphic Novel „Persepolis“ neu aufgelegt. Im Fokus der Geschichte steht das Leben einer gewissen Marjane, die als Kind von linksliberalen Eltern von einer besseren Welt träumt. In ihrer Heimat, dem Iran, hat gerade ein Umsturz stattgefunden, doch mit dem Sturz des Schah im Jahre 1979, wird nicht auf Anhieb alles besser. Vielmehr wird auf einmal eine Kopftuchpflicht für Frauen eingeführt, was dazu führt, dass das junge Mädchen kurzerhand zu rebellieren beginnt. Die autobiographische Geschichte der Autorin Marjane Satrapi ist bewegend in Szene gesetzt. Nicht nur im gleichnamigen Film, welcher Bestnoten von Seiten der Kritik einheimste, sondern auch im Comicband stellt sich sofort eine gewisse Aufbruchsstimmung beim Lesen der Geschichte ein. Nachdem sich unsere junge Heldin mit freundlicher Unterstützung ihrer Eltern nach Wien absetzt, wo sie erst mal fröhlich die Clubs der Stadt unsicher macht und sich der alternativen Szene zuwendet, kehrt sie schließlich nach einer enttäuschenden Lektion in Sachen Liebe in den Iran zurück. Dort angekommen möchte sie sich endlich ein neues Leben aufbauen, doch das leichter gesagt, als getan. Ob es der Protagonistin am Ende gelingt sich über die gesellschaftlichen Dogmen hinwegzusetzen und ein glückliches Leben zu führen? Am Besten du liest selbst mal rein. Die kindlichen Zeichnungen stehen diesbezüglich in einem krassen Kontrast zum alltäglichen Schrecken, der sich in Form von Unterdrückung und Ausgrenzung in das Leben von Marjane einschleicht. Gerade das allerdings, was von vielen Kritikern bei der Erstveröffentlichung um die Jahrtausendwende immer wieder bemängelt wurde, macht die Novelle meiner Meinung nach nur noch glaubwürdiger, weil deutlich wird, dass sich der die schlimmsten Zumutungen manchmal hinter dem Deckmantel des Alltags verstecken.
Gleich drei unterschiedliche Geschichten präsentiert uns der Comic-Künstler Will Eisner, der ganz nebenbei auch noch als Erfinder der Graphic Novel gilt, in seiner New York-Hommage „Ein Vertrag mit Gott“. Getreu dem Titel geht es in den unterschiedlichen Erzählungen um Menschen, die irgendwie ihren Glauben an Gott verloren haben. Was bitteschön soll denn an diesem Leben gut sein, fragt sich ein bislang gottgläubiger Jude, wenn die eigene Tochter aus dem Leben gerissen wird? Also verlässt er die geregelte Umlaufbahn seines Daseins und verdingt sich fortan als Immobilienspekulant. Unbarmherzig schreitet er im Leben voran, ohne dass da ein Licht am Ende des Tunnels zu erhaschen wäre. Das wiederum ist nur eine von vielen Geschichten aus diesem Comic, mit ihr macht Will Eisner aber mit am Besten deutlich, dass das Leben manchmal zu schwer ist, um es weiter mit einem Lächeln auf den Lippen zu ertragen. Die Geschichten aus der Bronx, die zwischen 1920 und 1940 spielen, rücken auf eine faszinierende Art und Weise den alltäglichen Schrecken in den Fokus des Betrachters. Es sind Geschichten, die vor allem von der vortrefflichen Beobachtungsgabe des Autors gekennzeichnet sind. Wie Eisner die Krise des Einzelnen in den Mittelpunkt rückt und sie gleichermaßen durch das Mietshaus / das heimische Viertel mit den Schicksalen der anderen Menschen verzahnt, macht „Ein Vertrag mit Gott“ nicht nur zu einer gelungenen Kurzgeschichtensammlung, das Ganze hat auch eine politische Dimension. Auf die gesellschaftspolitischen Fragen, die sich in der Armut und den Identitätskrisen der einzelnen Charaktere treffend widerspiegeln, ist in vielen (nicht nur) amerikanischen Städten immer noch keine passende Antwort gefunden worden. (Diesbezüglich sei hier auch auf die gelungene TV-Serie „The Wire hingewiesen, die in Baltimore spielt und im Grunde genommen einen ähnlichen Ansatz fährt).
In dem Band „Gift“ dreht sich alles um die Figur der Gesche Gottfried. Selbige soll in den Jahren 1813 bis 1827 fünfzehn Menschen mit einer giftigen Mixtur um die Ecke gebracht haben. Besonders schauerlich ist, dass sich darunter auch die drei Ehemänner, die Eltern und Kinder der Beschuldigten befunden haben. Sie wurde darüber hinaus als letzte Frau (Achtung SPOILER!) für ihre Taten auf dem Bremer Domshof öffentlich hingerichtet wurde. Die Bildsprache der Graphic Novel aus der Feder Barbara Yelins sorgt für eine nahezu beklemmende Atmosphäre beim Leser. Das Schicksal der Giftmischerin wird außerdem mit dem Leben einer ambitionierten, jungen Schriftstellerin verknüpft, die in Bremen gerade für eine Reisebeschreibung recherchiert. Peer Meter, der für die Texte des Bandes verantwortlich ist, sorgt in diesem Zusammenhang für eine große Menge an Spannungsmomenten, was allerdings auch dazu führt, dass die Figuren ein gewisses Maß an Tiefgang vermissen lassen. Dadurch bekommt man zwar einen tollen Krimi geliefert, an welchem Fans des im Carlsen Verlag veröffentlichten Comic-Bandes „Haarmann“ (ebenfalls aus Peer Meters Feder) durchaus Gefallen finden sollten, die beiden Hauptfiguren allerdings bleiben seltsam blass, so dass am Ende der Schrecken, den die Taten damals auslösten, für den Leser nur bedingt nachzuvollziehen ist. Sehr gut vermittelt werden im Gegensatz dazu die Sensationsgier des Publikums und die Doppelmoral einer Gesellschaft, die nicht nur nach Gerechtigkeit, sondern nach Rache dürstet. War die Täterin unzurechnungsfähig, wie ihr Anwalt im anschließenden Prozess behauptete oder war sie eine heimtückische Mörderin? „Gift“ lässt in diesem Zusammenhang viel Raum für Interpretationen, wobei die Figur der anfangs erwähnten Schriftstellerin als neutrale Autorität ins Spiel gebracht hat. Das wiederum nutzen die Autoren als Stilmittel, um ein bisschen mehr Licht ins Dunkel dieses so grausamen Falles zu bringen. Und so kann sich er am Ende jeder selbst ein Bild machen…
Wer derweil auf Comics der Marke „RG – Verdeckter Einsatz in Paris“ steht, der sollte sich mal die französische Geschichte „Blei in den Knochen“ zu Gemüte führen. Der renommierte Autor und Zeichner Jacques Tardi erzählt uns in dem Werk die Geschichte des Privatdetektivs Nestor Burma, welcher in Frankreich seit den 40er Jahren einen Konkurrenzkampf mit der Polizei führt. Die vorliegende Geschichte, die nun vom „SZ Verlag“ neu aufgelegt wurde, hat bereits über 20 Jahre auf dem Buckel und ist ein gelungener Appetizer, um als Leser in die Welt der kratzbürstigen Spürnase aus Montpellier abzutauchen. Inhaltlich dreht sich am Anfang alles um eine junge Dame für deren Tod sich der Protagonist mitverantwortlich fühlt. Also ertränkt er seine Sorgen am Tresen, nur um am nächsten Morgen festzustellen, dass ausgerechnet vor der Kneipe, in der er letzte Nacht gesoffen hat, ein weiterer Mord geschehen ist. Nestor Burma lässt sich also dazu breitschlagen, den Fall zu übernehmen, bzw. sieht sich sogar gezwungen, es zu tun, weil er plötzlich selbst ins Visier der Ordnungshüter gerät. Die Geschichte selbst zählt in diesem Zusammenhang wohl eher zu der Abteilung gehobenes Mittelfeld in Sachen Nestor Burma. Bisweilen ist alles ein Stück weit zu vorhersehbar und für Krimiexperten leicht zu durchschauen. Trotzdem wird der schwarze Humor des Protagonisten an vielen Stellen deutlich (die eingeflochtenen Gedankenblasen eignen sich hier ganz vorzüglich zum Darstellen des Innenlebens seiner Person). In diesem Zusammenhang dürften sich dann auch eher Fans des derben Humors angesprochen fühlen, wobei Selbiger immer einem gewissen Kontrast zu den eleganten Zeichnungen Tardis ausstrahlt. Darüber hinaus macht der Band Lust darauf, sich mal die Originalromane des französischen Krimi-Autoren Léo Malet auf den Nachttisch zu legen. Die sind nicht nur über jeden Zweifel erhaben, sie führen dem Leser auch auf treffsichere Art und Weise den ruppigen Charme von Nestor Burma vor Augen.
Der Nahostkonflikt beschäftigt uns derweil seit vielen Jahren und eine Lösung scheint auch weiterhin nicht in Sicht zu sein. Der Comic-Zeichner Joe Sacco nimmt das zum Anlass, um sich selbst ein Bild von der Situation vor Ort zu verschaffen. Sein Weg führt ihn in zahlreiche Flüchtlingslager, wo er auf Menschen trifft, die von den Auseinandersetzungen gezeichnet sind. Seine Graphic Novel „Palästina“ ist im Dokumentarstil verfasst und hat mit dafür gesorgt, dass Dokumentationen heute auch in gezeichneter Form veröffentlicht werden können, ohne dass es irgendwie lächerlich anmutet. Joes Saccos Werk beschränkt sich in diesem Zusammenhang ausschließlich auf die Sichtweise der Palästinenser, weshalb sich der Autor nach Veröffentlichung des Bandes zunehmend dem Vorwurf ausgesetzt sieht, kein objektives Bild von der Situation vor Ort zu zeichnen. Joes Sacco selbst sagt über sein Werk: „In diesem Buch wollte ich nicht objektiv sein, sondern ehrlich“, wodurch sich zahlreiche Kritiker von ihm erst recht bestätigt fühlten. Unabhängig davon schafft er es aber dennoch, das unermessliche Leid, das aus dem Nahost-Konflikt resultiert, in entstellte Motive zu überführen. Joe Sacco neigt in „Palästina“ dazu, seine Zeichnungen als Zerrbilder in Szene zu setzen und so transformiert sich so manches, freudlose Gesicht im Angesicht des Schreckens zu einer monströs anmutenden Fratze. Seine Geschichte enthält Motive, die sich unweigerlich in das Gehirn des Beobachters einbrennen. Genauso wie die Geschichte des Bandes „Waltz With Bashir“, welcher ebenfalls im „SZ Verlag“ erschienen ist und aus der Feder von Ari Folman und David Polonsky stammt. Die matten Farben des Werks deuten schon darauf hin, dass man es hier mit einer gespenstischen Geschichte zu tun bekommen wird. Im Mittelpunkt steht das Leben eines gewissen Ari, seines Zeichens Filmregisseur, der sich verzweifelt daran erinnern möchte, was im Jahre 1982 während des Libanonkrieges geschehen ist. Er selbst ist damals als israelischer Soldat aktiv mit dabei gewesen, doch sein Erinnerungsvermögen hat ihn inzwischen im Stich gelassen. Er macht sich also auf die Suche nach den früheren Kameraden. Ziel ist es, der Wahrheit auf die Schliche zu kommen, wobei er sich am Ende mit seiner eigenen, ganz persönlichen Schande konfrontiert sieht. Er muss feststellen, dass er (Achtung SPOILER!) als stiller Beobachter an den Massakern in den palästinensischen Flüchtlingslagern Sabra und Schatila beteiligt gewesen ist… (wobei wir in diesem Zusammenhang noch anfügen möchten: wer den gleichnamigen Film bisher noch nicht gesehen hat, sollte sich unbedingt mal Zeit dafür nehmen. „Waltz With Bashir“ gehört zu den eindrucksvollsten Dokumentationen der letzten Jahre – die Graphic Novel von Ari Folman und David Polonsky ist auf Grundlage des Films entstanden). Und damit Schluss für heute. Viel Spaß mit den zahlreichen Schätzen der SZ-Bibliothek. Wir lesen uns beim nächsten Strichcode.
UND WAS NUN?