mit neuen Büchern von Andrea Hanna Hünniger, Judith Schalansky, Wolfgang Lieb & Albrecht Müller, der „Titanic“ und Jess Jochimsen.
Einen bemerkenswerten Roman hat Andrea Hanna Hünniger in diesen Tagen aus dem Ärmel geschüttelt. „Das Paradies“ erzählt aus dem Leben einer ostdeutschen Jugendlichen, die sich in einer Welt zurechtfinden muss, welche sich gerade erst neu zusammensetzt. Gerade mal sechs Jahre ist die Protagonistin alt gewesen, als die Mauer eingerissen wurde. Sie kennt die Geschichten über das Leben in der ehemaligen DDR lediglich aus Geschichten. Und weil die Eltern zu gegebenem Zeitpunkt selbst noch dabei sind, sich mit den bestehenden Verhältnissen zu arrangieren, fehlt der Heldin dieses Romans in gewisser Weise auch jemand (oder etwas), an dem sie sich festkrallen könnte. Die Kids müssen das Ganze selbst in die Hand nehmen – erforschen die Welt, entern die großen Supermärkte und vertreiben sich den lieben, langen Tag im so genannten „Paradies“ – einer Kleingartensiedlung und gleichzeitig einem Ort des Rückzugs, an dem Lebenserfahrungen ausgetauscht werden können. Während um die Menschen herum Altbewährtes durch Neues ersetzt wird, suchen die Erwachsenen nach einem Platz in ihrem Leben. In diesem Zusammenhang erzählt „Das Paradies“ auch die Geschichte einer Trennung. Alle Akteure wissen, dass es wie vorher nicht weitergehen konnte und dennoch fühlten sie sich in dem Moment, in dem sich der Wandel vollzog, seltsam überrumpelt. Es ist daher keine große Überraschung, dass sich die jungen Menschen in Folge dessen lieber an ihren Altersgenossen orientieren. Es fallen unversöhnliche Sätze wie „Ich teile mit vielen Ostdeutschen, die heute zwischen 24 und 29 Jahren alt sind, die Erziehung durch melancholische, ja depressive, eingeknickte, enttäuschte, beschämte, schweigende Eltern und Lehrer“ – es fallen Worte, die deutlich machen, welches Drama es in einem jungen Menschen auslöst, wenn diejenigen, die ihn in die Welt setzen, zunehmend resignieren und auf der Stelle treten. Die Protagonistin wächst in einem Umfeld aus „Unsicherheit“ und „Schuld“ auf und schafft es diese Diskrepanz, welche zwischen ihrem und dem Leben der Erwachsenen herrscht, in überraschend simple, aber gleichzeitig eindrucksvolle Formulierungen zu packen: „Die Lebensrealität der Eltern ist eine ganz andere, weil sich die Gesellschaft ruckartig verändert, ein System das andere abgelöst hat. Und das Schweigen darüber ist dann vor allem eine hohe und dicke Mauer, die uns von unseren Eltern trennt“. Ob es am Ende einen Ausweg aus diesem Dilemma gibt? Am Besten du findest es selbst heraus. Es lohnt sich.
Einen weiteren Roman zum Thema Vergangenheitsbewältigung hat Judith Schalansky aus dem Ärmel geschüttelt. „Der Hals der Giraffe“ erzählt aus dem Leben einer Biologie-Lehrerin, die sich mit den letzten, verbliebenen Schülern eines Gymnasiums kurz vor Schließung herumschlägt. Vier Jahre bleiben der Lehrerin noch, bevor der Laden dicht macht. Zwölf Schüler sitzen vor ihr und lauschen den Abhandlungen der starsinnigen Nostalgikerin, die ihnen beizubringen versucht, dass man in einem System nur eine Chance hat, wenn man sich dem gesellschaftlichen Konsens unterwirft. Anpassen ans System musste sie sich ja schließlich auch – in der ehemaligen DDR, und geschadet hätte sie damit auch Niemandem – meint sie jedenfalls. Die Ehe mit ihrem Mann ist sie vor allem aus Vernunftgründen eingegangen. Gefühle erscheinen ihr überflüssig, im Allgemeinen bringen die sowieso nichts Positives hervor. Das Einzige, was zählt, ist die Natur. Soll heißen: am Besten wir unterwerfen uns den bestehenden Verhältnissen, dann kommen wir schon zu recht mit all dem unheilvollen Zeug, das unsere Seele belastet. Man merkt es bereits: „Der Hals der Giraffe“ ist ein ungewöhnliches Buch. Es dreht sich um einen Menschen, der irgendwie aus der Zeit gefallen ist – dessen Lebensstil irgendwie gestrig anmutet. Es dreht sich aber auch darum, was passiert, wenn Sicherheiten erschüttert werden. Es sind vor allem die Unnahbarkeit und der Starrsinn der Protagonistin, welche einen faszinieren. Schon allein deshalb sucht man nach Bruchstellen in deren System – wird darüber hinaus aber auch mit zahlreichen Illustrationen beglückt, die einem das Gefühl vermitteln, es hier mit einer Art „Schulbuch“ zu tun zu haben. In gewisser Weise dreht sich dieser „Bildungsroman“ ja auch ums Lernen. Und darum, wie sich die Strukturen unseres gesellschaftlichen Systems auflösen. Wenn plötzlich keine Bahn mehr durch den Ort tingelt, die Geschäfte schließen, die Schülerzahlen zurückgehen, dann reflektiert das eben auch, was tagtäglich in weiten Teilen Deutschlands passiert. „Sparen wir uns doch einfach das Volk“ war neulich auf einem Plakat im Rahmen einer „Occupy“-Demonstration zu lesen – es ist ein Satz, der einen zum Nachdenken anregt. Genau wie dieses Buch.
Wer sich gerne kritisch mit der Berichterstattung einschlägiger Medienvertreter auseinandersetzt, sollte mal die „NachDenkSeiten“ ansurfen. Wolfgang Lieb, seines Zeichens promovierter Jurist und ehemaliger Regierungssprecher unter Johannes Rau macht sich mit seinem Kollegen Albrecht Müller (Leiter des 72er Wahlkampfes von Willy Brandt) daran, das alltägliche Geschreibsel im Blätterwald (und auch des Online-Bereichs) zu bündeln und – falls nötig – mit kritischen Kommentaren zu versehen. Mit ihrem aktuellen Buch „Nachdenken über Deutschland – Das kritische Jahrbuch 2011 / 2012“ (Die Reihe existiert bereits seit dem Jahr 2007) möchten die Beiden „aufregen“ und „anregen“. Im Zeitalter des unaufhörlichen Informationsflusses wird es für die Menschen immer schwerer, sich differenziert mit unterschiedlichen Thematiken auseinanderzusetzen. In ihrem Werk versucht das Duo es dennoch und setzt sich – wie auch in den „Hinweisen des Tages“ (eine tägliche Bündelung relevanter tagespolitischer Meldungen, welche -bisweilen kommentiert- auf der Homepage erscheint) – mit politischen Themen auseinander. Im Gegensatz zu vielen Medienvertretern, die sich hinter rhetorischen Kniffen verschanzen, um oberflächliche Aussagen zu kaschieren, gelingt es den Beiden in ihrem Werk, klar Stellung zu beziehen und so verständlich zu schreiben, dass man es auch als Politik-„Laie“ versteht. In ihren Texten über die „Fehler der Wirtschaftspolitik“ oder die „Finanzkrise“, über Manipulationen von Seiten der Medien oder die Probleme der deutschen Außenpolitik, stellen sie die einzelnen Sachverhalte differenziert und für alle nachvollziehbar dar. Albrecht Müller und Wolfgang Lieb machen mit ihrem Buch deutlich, wie wichtig es ist, das tagespolitische Geschehen kritisch zu reflektieren. Oder um es mit Dr. Peter Bofingers Worten zu sagen (welcher das Vorwort zu diesem Werk beisteuerte): „…was ist in einer Welt voller Probleme wichtiger, als immer wieder neu nachzudenken, statt dem Herdentrieb zu folgen?“
Und darauf hat die Menschheit nun wirklich schon lange gewartet. Satire-Fans dürfen sich auf der Stelle eine Woche krankschreiben lassen, denn die „Titanic“ hat in diesen Tagen „Die endgültige People-Bibel“ veröffentlicht. Der großformatige, 350seitige Wälzer, den man auch genüsslich als Kopfkissen benutzen kann, macht sich daran „Das totale Promi-Massaker“ zu veranstalten. Stilgerecht wird dann titeltechnisch auch gleich in die Vollen gegangen: mit Westerwelle, Merkel, Kohl und zu Guttenberg sind die „größten“ ihrer Zunft vertreten. Natürlich macht die Titanic auch vor Hitler nicht halt und titelt „Depression – Wenn Promis am Leistungsdruck zerbrechen“. Es ist im wahrsten Sinne des Wortes ein Genuss sich durch dieses Kabinett an Persiflagen zu wühlen. Alle wichtigen Fragen werden in diesem Zusammenhang natürlich nicht beantwortet: Wer ist verdammt noch mal wirklich unwichtig? Und wen möchten wir bitteschön niemals wieder auf der Mattscheibe sehen? Im Anschluss werden Diskussionsrunden mit frei interpretierten Dialogfetzen geschmückt, Rubriken wie „Ohne Worte“ aus der Süddeutschen Zeitung persifliert … (ich meine, Westerwelle? Ohne Worte? Hach, im Original schon der Wahnsinn…), Schulkreuze mit Kopftüchern geschmückt und „Emily Strange“-Comics in „Angela The Strangala“-Strips umfunktioniert. Die meisten Artikel bewegen sich am Rande des guten Geschmacks, sind aber immer von gesellschaftspolitischer Brisanz. Eben das war ja schon immer die größte Stärke der „Titanic“. Man hat sich nie auf plumpe Effekte beschränkt, man wollte die Menschen lieber ins Grübeln bringen. Somit ist „Das totale Promi-Massaker“ auch keine platte Lachnummer geworden, sondern eine listige Gesellschaftssatire von der, wie der Spiegel so schön sagt, verbotensten Zeitung Deutschlands.
Jess Jochimsen hat sich in den letzten Jahren bereits einen Namen als Kabarettist und Fotograf gemacht. Nebenbei ist er auch noch als Autor aktiv und hat bereits Werke mit so sagenhaften Namen wie „Das Dosenmilch-Trauma“, „Bellboy“ und „DanebenLEBEN“ veröffentlicht. Sein aktuelles Buch hört auf den schmissigen Namen „Was sollen die Leute denken“ – der Titel des Werks gibt in diesem Zusammenhang auch gleich die Richtung vor. Das 77seitige Manifest dreht sich nämlich um einen Menschen, der keine Lust mehr hat, die an ihn gestellten Erwartungen zu erfüllen. Er zieht sich also zurück und versinkt in einen Monolog, der kein Ende mehr findet. Selbiger wiederum ist amüsant, lebensnah und witzig getextet, so dass einem immer wieder ein Lächeln aufs Gesicht huscht. Scheinbare Belanglosigkeiten werden zu existenziellen Fragen aufgebauscht. „Aber es bleibt dabei: Ich geh nicht mit, Ins Gartencenter. Pärchenscheiße! Wieder Grünzeug kaufen, das dann letztlich doch nur verwelkt. Und traurig macht“. Da werden schöne Erinnerungen an Bernd Begemanns Song „Wir sitzen alle in der IKEA-Falle“ wach. Und überhaupt gelingt es dem Autor auf charmante Weise, nicht in die gängigen Klischeefallen zu treten, sondern die Absurdität unseres alltäglichen Handelns offen zu legen. Wer schon lange mal wieder aus der Haut fahren wollte. Bei Jess Jochimsen ist er an der richtigen Adresse. Und damit Schluss für heute. Bis zum nächsten Mal.
UND WAS NUN?