Nein, mir fehlt es an beinahe nichts. Ich muss nicht in der U-Bahn meine eisigen, kaum mehr beweglichen Glieder aufwärmen um dann irgendwo einen Schlafplatz zu suchen.
Ich muss nicht darum bangen, dass kein Krankenhaus in dieser Stadt meine Operation durchführt, weil ich hier nur geduldet bin. Ich muss nicht darüber weinen, dass mein Kind kein einziges von den Geschenken, die es sich wünscht, zu Weihnachten bekommen kann. Und ihr alle, die ihr an Weihnachten liebe Menschen, ein warmes Zuhause und ein fabelhaftes Essen habt, freut euch nicht eures Lebens. Nein, aber genießt es so gut es geht und seid dankbar, so gut es geht.
Leider geht das nicht immer so gut. Ich schaue hinaus in den Schnee und schäme mich. Dafür, dass ich alles habe und von einem zu viel. Von etwas, das kaum jemand ahnt. Das man nicht durch meine glühenden Augen sehen kann. Durch meine schöne Schale. Durch meinen Tanz.
Gestern lief ich auf die Straße. Der Nebel hauchte seine schwere Feuchte in den schwarzen Teer. In die Dunkelheit. In die kahlen Bäume. In die weiten Felder, von denen in dieser Nacht nichts blieb als graue Weite. Ich zog meine Schuhe aus. Obwohl es eiskalt war. Was ich tat sah ich nur durchs Mondlicht. Das immer wieder kurz zum Vorschein kam. Hinter den über den Himmel rasenden Wolken. Verlassen war die Straße zu dieser Zeit, wie das Feld. Ich knotete die Schuhe an ihren Schnüren zusammen und legte sie mir über die Schulter. Damit ich meine eisigen Finger in die Taschen stecken konnte. Ging aufs Feld. Jetzt. Jetzt konnte ich es vielleicht spüren. Die kleinen, eisharten Stoppeln des Feldes. In meinen Fußsohlen. An meiner Ferse. An meinen Zehen. Sie stachen sich in meine Haut. Nur ganz kurz, gerade so, dass ich ein Gefühl dafür bekam. Dann hob ich meinen Fuß für den nächsten Schritt.
Jetzt sehe ich ihn. Er ist auch barfuß. Eine schwarze Silhouette mit weißen Füßen im fahlen Licht. Laufen wir aufeinander zu. Die Waffen in unserer Gewahr. Er schwankt. Er schwankt hin und her beim laufen, oder schwanke ich? Ich weiß es nicht mehr. Es ist zu kalt. Ich spüre nichts bis auf das harte, eisige Stechen in meinen Füßen.
Dann steht er vor mir. Ich vor ihm. Wir uns gegenüber. Doch wir können nicht stehen bleiben, weil das Stechen zu stark ist. Wir müssen laufen. Jetzt ist es zu spät. Die Füße sind zu kalt, sie lassen sich nicht mehr bewegen, nicht in Schuhe stecken. Ich werfe sie weg. Und sehe ihn an. Wir laufen um einander herum, um das Stechen zu ertragen. Wie Tiger. Im Kreis. Umzingeln wir uns. Jeder denkt an seine Waffen. Sicher. So bann mich, bann mich! Ich banne dich! Keiner wird hier seine Hand ausstrecken, keiner wird hier das Schwert senken, keiner wird aufhören, geduckt den anderen zu umzingeln. Schneller, schneller. Gleich wird es passieren, gleich, ich warte darauf, meine Füße pulsieren im Stechen der Kälte, gleich, Jetzt:
Deine Augen fangen mich. Ich dich. Hitze durchbricht mich. Meine nackten Füße zwingen mich in die Knie. Ich sinke zu Boden. In den Schnee. Ich muss den Blick abwenden. Höre nur noch, wie auch er zu Boden fällt. Wir haben uns besiegt.
Jetzt können wir weiter leben. Ohne diese durchdringende Gefahr. Jetzt sind wir besiegt. Ich bin noch zu schwach, um aufzustehen. Krieche über den Schnee. Falle wieder zu Boden. Muss weiter gehen. Nehme alle Kraft zusammen und gehe weiter. Die Gefahr ist jetzt besiegt. Gehe weiter, mit den Waffen in meiner Gewahr. Geh!
Ein letztes Mal drehe ich mich um. Jetzt, wo ich am Boden liege. Werfe einen letzten Blick zurück. Auf den Kampfplatz. Auf ihn. Auf mich. Es durchzuckt mich. Ich breche erneut zusammen. Nein! Die Gefahr ist nicht besiegt. Sie wird es nie sein. Sie ist in mir. Ich will schreien, ich will etwas rufen, doch meine Lippen sind taub und klamm. Mein Atem schwer und im Bann. Zum rufen ist es zu spät.
Ja, ich habe fast alles und von einem zu viel. Ich stehe auf. Treibe meine eiskalten Glieder weiter. Auch wenn es zu spät ist, tue ich endlich das einzig richtige. In deinem fahlen Licht, Mond, unter den rasenden Wolken:
Ich entwaffne mich.
*
Hanna Wind
Schlagwörter: angst
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