mit den Bänden „Stiche“, „Die Ballade vom Seemann und Albatros“, „Packeis“, „Und dann gabs nichts mehr“, „Rocket Blues“, „Dave Grigger“, „Manhole“, „3/11 – Tagebuch nach Fukushima“ & „Wild Life“.
// Wow! Das Leben eines jungen Menschen mit Kehlkopfkrebs im Rahmen einer Graphic Novel zu umreißen – das verdient Respekt. Der gebürtige Detroiter und Yale-Absolvent David Small hat sich an seine eigene, bewegte Geschichte herangewagt und ein zauberhaftes Werk voller poetischer Momente geschaffen. „Stiche“ ist auch deshalb so glaubwürdig, weil der Autor darin aus seinem eigenen Leben erzählt. Er eröffnet seinen Lesern ein Blick in sein Innerstes und beschreibt, wie er unter den folgenschweren Entscheidungen seines Vaters zu leiden hatte. Mit seinem Werk führt er den Lesern vor Augen, was der Preis für unseren Glauben an den immerwährenden Fortschritt ist.
Das Schlimmste an diesem Roman ist, dass der junge Mann eigentlich gar keine Wahl hat, er ist schlicht und ergreifend gezwungen sich den Wünschen des Vaters zu beugen, der ihn als Forschungsobjekt missbraucht. Nur so hat der Junge die Möglichkeit, ein Gefühl der Nähe zu seinem alten Herrn herzustellen. Die Mutter von David verhält sich ebenfalls sehr kühl und distanziert ihm gegenüber. Also ergibt sich der Junge in sein Schicksal und lässt sich von seinem Vater regelmäßig mit Röntgenstrahlen behandeln. Die Folge davon: David verliert seine Stimme. Und so scheint es nur folgerichtig, dass seine Autobiografie nun in grafischer Form erscheint. Diese Bilder nämlich sagen mehr als tausend Worte. Die Unschärfe in den Gesichtszügen der Eltern verweist auf die komplexe Beziehung zwischen den einzelnen Familienmitgliedern. Davids unbeantwortete Fragen scheinen sich in den dunklen Schatten auf den Gesichtern der Eltern widerzuspiegeln. Umso mehr stellt sich die Frage, warum Selbige ihm so gefühlskalt und distanziert gegenüber stehen. Warum sind sie nicht bereit gewesen, ihre Hand auszustrecken und ihn durch diese so schwierigen Tage zu führen. „Stiche“ ist ein bewegendes Werk.
// Im „mare“-Verlag erscheint in diesen Tagen ebenfalls eine aufwändig gestaltete Graphic Novel von Nick Hayes, die einen äußerst erstaunt zurücklässt. „Die Ballade vom Seemann und Albatros“ umreißt die Geschichte eines Seemanns, der aus seiner eigenen Vergangenheit erzählt. Das Buch ist im Grunde genommen eine Neu-Adaption der Ballade „The Rime of the Ancient Mariner“ von S. T. Coleridge, welche bereits im Jahre 1798 erschienen ist. Im Gegensatz zum Original wird in Hayes Version allerdings ein riesiger Müllwirbel dem Seefahrer zum Verhängnis. Plötzlich ist er umgeben von Plastikteilen, Nylonnetzen und sonstigem Unrat und wird auf diese Weise zum Opfer des fortwährenden Konsumstrebens auf unserer Welt. Nick Hayes wirft mit seiner Geschichte die Frage auf, wie viel man nehmen kann, ohne etwas zurückgeben zu müssen. Er hält den Menschen den Spiegel vor und führt ihnen auf diese Weise vor Augen, was sie mit unserem Planeten anrichten. Hayes gelingt es in diesem Zusammenhang die Handlung des Buches auf eine entscheidende Frage zu verdichten: Schafft es der Seemann einen Durchschnittsbürger davon zu überzeugen, dass er seine Aufmerksamkeit lieber auf seine Geschichte, als auf das Handy in seiner Hand richten sollte. Gelingt es dem Seefahrer den jungen Menschen davon zu überzeugen, dass es wichtig ist, ihm zuzuhören? Schafft es der Matrose, einem ganz normalen Menschen den Irrsinn da draußen zu verdeutlichen – und ihn auf diese Weise davon zu überzeugen, dass wir kurz davor stehen, unseren Planeten zu Grunde zu richten. Wird der Angestellte zuhören, bevor es zu spät ist? Noch besser; Werden wir zuhören bevor es zu spät ist? Eine spannende Frage, der man unbedingt auf den Grund gehen sollte.
// In der Graphic Novel „Packeis“ dreht sich alles um Matthew Henson. Er ist der erste Mensch der im Jahr 1909 den Nordpol erreicht hat und gleichermaßen der erste, welcher laut der Sagenwelt der Inuit, Satan höchstpersönlich besiegen konnte. Der Erfurter Illustrator Simon Schwartz hat sich daran gemacht, seine bewegte Geschichte in blauschimmernde Motive zu überführen. Die erste Veröffentlichung des Künstlers (namentlich: „drüben!“) heimste unter anderem den „ICOM Independent-Comic-Preis“ ein und war für den „Deutschen Jugendliteraturpreis“ nominiert. Darüber hinaus erscheinen Simon Schwartz´s Comics regelmäßig in der „Zeit“, dem „Tagesspiegel“ und der Wochenzeitung „Der Freitag“. Sein aktuelles Werk hat ebenfalls das Zeug zum Klassiker. Die Geschichte fesselt einen von der ersten Seite an und der Comic-Band enthält darüber hinaus zahlreiche Skizzen und historische Fotos, die einen interessanten Einblick in das Leben des Protagonisten liefern. Anhand einer Zeitachse werden darüber hinaus die wichtigsten Stationen im Leben von Matthew Henson umrissen. Interessanterweise konnte man die Entstehung des Buches auch auf einem eigens eingerichteten Blog mitverfolgen. Auf Selbigem lassen sich auch zahlreiche weitere Hintergrundinformationen (unter anderem zur Release-Party des Werkes und dem Produktionsprozess) finden. Also surft mal vorbei. Es lohnt sich. Die Adresse lautet: packeis.blogspot.com
// Es war ja eigentlich nur eine Frage der Zeit bis auch hierzulande ein Werk von Agatha Christie in Form einer Graphic Novel erscheinen würde. Dem Schriftsteller und Journalisten François Rivière, welcher sich auf die Adaption von Krimis aus der Feder Christies spezialisiert hat, gelingt es in „Und dann gabs nichts mehr“ ganz vorzüglich die spannende Vorlage in eine Bildergeschichte zu transformieren. Sein Werk erscheint nur erstmals in deutscher Sprache beim „Knesebeck“-Verlag und entstand mit freundlicher Unterstützung des Zeichners und Koloristen Frank Leclercq. Die Geschichte spielt auf einer kleinen Insel vor der Küste Devons. Ein unbekannter Gastgeber hat sich dazu entschlossen, zehn Damen und Herren aus reichem Hause zu einem gemeinsamen Wochenende einzuladen. Ziel des ganzen Veranstaltung ist es, ihre dunkelsten Geheimnisse aus dem Versteck zu zerren und damit ihr ganzes Leben auf den Kopf zu stellen. Die Beweggründe des mysteriösen Gastgebers bleiben in diesem Zusammenhang lange im Dunkeln, was die Geschichte über die volle Distanz spannend hält. Das Buch trug übrigens ursprünglich den Titel „Zehn kleine Negerlein“, welcher 1985 im Rahmen einer Neu-Übersetzung aus naheliegenden Gründen geändert wurde. (Vorsicht SPOILER!) Dass die Anwesenden im Rahmen der Handlung nach und nach das Zeitliche segnen ist auch dem Umstand geschuldet, dass sich Agatha Christie mit diesem Werk zum Thema Selbstjustiz äußern wollte. Sie wollte deutlich machen, dass die Gesetze manchmal nicht ausreichen, wenn es darum ging, Recht zu schaffen.
// Wir möchten euch in der Zwischenzeit auf einen ganz außergewöhnlichen Comic-Künstler aus Freiberg in Sachsen hinweisen. Ivo Kircheis hat nicht nur Grafikdesign, sondern auch Mikroelektroniktechnologie studiert und frönt seither seiner Liebe für schräge Charaktere, die er mit Tusche und Feder auf weißes Papier transferiert. Seine schwarzweißen Zeichnungen strahlen einen schrägen Charme aus, dem man sich als Leser kaum zu entziehen vermag. In seinem Werk „Rocket Blues“, an dem auch der Zeichner Mamei als zweiter Autor mitarbeitete und die Hälfte der schrägen Einfälle beisteuerte, begibt sich ein gewisser Laszlo Lommatzsch auf große Abenteuerreise. In Folge eines Verkehrsunfalls entsteht ein Riss im Raum-Zeit-Kontinuum und der werte Herr findet sich plötzlich auf der so genannten „Libelle“ wieder. Das ist ein Raumschiff, das von einem verrückten Herrn namens „Mister Rocket“ geleitet wird. Ob es ihm gelingt wieder zurück auf die Erde zu kommen? Mamei und Kircheis schildern das in Form eines „Milchstraßen-Road-Movies“, das man sich auf keinen Fall entgehen lassen sollte. Es strotzt nur so vor verrückten Einfällen und lebt von seinem schrägen Charme, der immer wieder schöne Erinnerungen an die Reihe „Per Anhalter durch die Galaxis“ wachruft. Kein Wunder, dass die Beiden dafür den „ICOM Independent Comicpreis 2011“ abgestaubt haben. Eine solch abgefahrene Geschichte muss man erst mal aus dem Ärmel schütteln…
// …was uns schließlich direkt zu einem weiteren Werk der beiden Comic-Zeichner führt, das bereits im Jahre 2009 erschienen ist. „Dave Grigger“ dreht sich, wie der Name es bereits vermuten lässt, um einen Totengräber. Selbiger hört auf den Namen David und haust in einem alten Bauwagen. Wenn er mal zur Ruhe kommen möchte allerdings plagen ihn so komische Stimmen, die einfach nicht aus seinem Kopf verschwinden wollen. Als dann plötzlich auch noch ein paar Dämonen aus der Unterwelt in Richtung Erdoberfläche huschen, scheint das Ende der Welt nicht mehr allzu fern zu sein. Stellt sich eigentlich nur noch die Frage: Ist das alles wirklich real? Mamei setzt sich hier auf originelle Weise mit einem verrückten Charakter auseinander. Durch seine grotesken Motive verwirrt er den Leser und sorgt auf diese Weise für ein gehöriges Maß an Spannung. Mamei, der auch ein gemeinsames Atelier mit Kircheis unterhält, gelingt es eine gespenstische Atmosphäre zu kreieren, die jeden Fan von Tim Burton gefallen dürfte. Ob sich am Ende alles nur als Hirngespinst des Protagonisten herausstellt? Am besten du findest es selbst heraus. Es lohnt sich.
// Abseits der Manga-Stangenware in den einschlägigen Buchhandlungen bewegt sich das Werk „Manhole“, dessen beide ersten Ausgaben gerade beim „Carlsen“-Verlag erschienen sind. Die Geschichte „Manhole“ des japanischen Autors Tetsuya Tsutsui, der bereits zuvor mit den Werken „Reset“ und „Duds Hunt“ für Furore sorgte, hebt sich mit schon aufgrund der Detailschärfe seiner Motive von den zahlreichen, weiteren Veröffentlichungen in diesem Bereich ab. Nachdem ein nackter Mann blutüberströmt auf der Straße zusammenbricht, stellen Forscher fest, dass er von einem Parasiten befallen ist. Noch während die Ermittlungen laufen, kommt es zu einem weiteren Todesfall und die Klärung des Falles wird immer mehr zu einem Wettlauf mit der Zeit. Die beiden Kommissare Mizoguchi und Inoue versuchen die Herkunft der mörderischen Würmer aufzuklären, die sich im Körper ihres Wirts breit gemacht haben. Waren es am Ende vielleicht sogar offizielle Behörden, die das Virus versehentlich auf die Bevölkerung losließen. Und was haben diverse Strafgefangene mit der ganzen Geschichte zu tun. Mit seinem Werk ruft Tetsuya Tsutsui schöne Erinnerungen an die „Pluto“-Saga von Urasawa und Tezuka wach, die erst vor kurzem in voller Länge ebenfalls bei „Carlsen“ erschienen ist. Fans des Zombie-Epos „The Walking Dead“ dürfen ebenfalls mal einen Blick riskieren, weil die Geschichte mit zunehmender Länge auch eine gewisse Endzeitatmosphäre ausstrahlt. „Manhole“ ist ein echter Geheimtipp (nicht nur) für Manga-Fans, den du dir auf keinen Fall entgehen lassen solltest.
// Eine illustrierte Erzählung der Geschehnisse vom 11. März erscheint derzeit ebenfalls im „Carlsen“-Verlag. In „3/11 – Tagebuch nach Fukushima“ erzählt die japanische Illustratorin Yuko Ichimura die Geschichte des folgenschweren Erdbebens von Fukushima. Nachdem eine riesige Welle auf die Küste Japans zuschießt, havariert das örtliche Atomkraftwerk. Jeder Leser dürfte die schrecklichen Bilder noch direkt vor Augen haben. Die Autorin versucht das Unfassbare greifbar zu machen. Die unsichtbare Angst, die das Land ergreift. Der freie Journalist Tim Rittmann, welcher untere anderem für „Zeit Online“ und das Magazin „Gee“ tätig ist, erzählt dazu die Geschichten aus dem Alltag nun auch für die Menschen hierzulande. Er hat Yuko Ichimuras Texte ins Deutsche übersetzt und sie vorab bereits im Rahmen der Online-Ausgabe des „SZ“-Magazins veröffentlicht. In Zusammenhang mit Ichimuras-Zeichnungen entwickeln seine Worte einen Sog, dem man sich als Leser kaum entziehen kann. Die Geschichten aus dem Alltag, welche hier erzählt werden, sind so greifbar, dass sie einen immer wieder ins Grübeln bringen. Das Buch dreht sich nämlich vor allem um die Menschen, die nicht direkt von der Katastrophe betroffen waren. Es dreht sich um das Innenleben derjenigen, die davon gekommen sind und fortan immer wieder von den Gespenstern der Vergangenheit eingeholt werden. Einige trennen sich, andere haben Angst zu essen, andere versuchen zwanghaft den eigenen Alltag aufrecht zu erhalten, doch in all ihren Köpfen verändert sich etwas durch die tragischen Ereignisse. Ein lesenswertes Werk über ein verstörendes Kapitel in der Geschichte der Menschheit.
// Im Rahmen der letzten Ausgabe haben wir euch bereits auf den Band „Body Language“ des Zeichner-Duos Bringmann & Kopetzki aufmerksam gemacht. Weil uns deren Zeichnungen dermaßen erfreut haben, nutzen wir die Gelegenheit euch auch noch den ersten Band ihrer „Wild Life“-Reihe ans Herz zu legen. „Welcome To The Club“ ist wie sein Nachfolger ein schick aufgemachtes Comic Strip-Sammelsurium an grotesken Situationen, die allabendlich in den einschlägigen Techno-Clubs des Landes zu beobachten sind. Die beiden Autoren stellen die unterschiedlichen Ereignisse dermaßen überspitzt dar, dass man aus dem Grinsen gar nicht mehr herauskommt. So wird unter anderem ein Clubbesitzer nicht in seinen eigenen Club gelassen, weil er nicht entsprechend gekleidet ist. Hin und wieder bricht auch schon mal eine Eisplatte ein, wenn beim „Rave On Ice“ so richtig auf die Kacke gehauen wird. Oder es wird blöd aus der Wäsche geguckt, wenn plötzlich zum „Techno-Karaoke“ eingeladen wird. Was unser lieber Yoda mit der ganzen Geschichte zu schaffen hat…? Am besten du findest es selbst heraus. Es lohnt sich. Auch deshalb, weil am Ende noch ein paar ein- bis zweiseitige Geschichten aus dem Ärmel geschüttelt werden, die auf sympathische Weise den Streifen „Zurück in die Zukunft“ parodieren oder vom alltäglichen Wahnsinn auf den einschlägigen Techno-Festivals erzählen. „Wild Life“ ist ein schrecklich schräges Vergnügen. Deshalb hoffen wir jetzt schon auf weitere Fortsetzungen. Und machen Schluss für heute. Bis zum nächsten Strichcode.
UND WAS NUN?