mit dem für den Deutschen Buchpreis nominierten Werk „Vierungsiebzig“ von Ronya Othmann.
// Manchmal gibt es Bücher, die packen dich einfach. Ich kann auch nach Schließen des Buchrückens nicht aufhören, über Ronya Othmanns neuen Roman „Vierundsiebzig“ nachzudenken. Schon jetzt ist klar, dass Othmann hier wirklich Großes geleistet hat. Ihr zweiter Roman ist eine Art von verstörendem Zeitdokument, das uns auf eine erschütternde Reise zu den Wurzeln eines der dunkelsten Kapitel unserer jüngeren Geschichte mitnimmt. Im Jahr 2014, als die Welt zusah, wie die êzîdische Bevölkerung in Shingal vom IS brutal angegriffen wurde, entfaltet sich die Geschichte in „Vierundsiebzig“. Othmann, die mit ihrem Debüt „Die Sommer“ bereits ein starkes Zeichen gesetzt hat, geht hier noch tiefer und unerschrockener an das Thema heran.
Ihre Sprache ist dabei eine faszinierende Mischung aus Klarheit und Poesie – manchmal fast schon klinisch, wenn sie die Gräueltaten beschreibt, und dann wieder tief berührend, wenn sie die verzweifelte Trauer und den Schmerz der Überlebenden einfängt. Aber wie soll man Worte finden für das Unaussprechliche? Othmann meistert diese Herausforderung, indem sie dokumentarische Präzision mit einer Prise Fiktion versieht, und schafft so ein Werk, das weder in Sensationslust abgleitet noch im Schockzustand verharrt. „Vierundsiebzig“ ist definitiv kein Buch für nebenbei. Es ist kein leichter Schmöker für eine entspannte Lesesession, sondern ein Werk, das tief unter die Haut geht und auch mal weh tut. Aber genau darin liegt seine Kraft. Es fordert uns heraus und öffnet Wunden, die vielleicht nie ganz heilen werden, doch genau deshalb ist es so wichtig. Der persönliche Blickwinkel von Othmann, die selbst aus der Diaspora stammt und als Journalistin und Autorin in Deutschland lebt, verleiht dem Roman eine zusätzliche Dimension, die einen nicht mehr loslässt. „Vierundsiebzig“ ist dabei in seiner Dichte und Klarheit fast unerträglich, doch gerade deshalb bringt es einen zum Nachdenken. Ronya Othmann beweist hier einmal mehr, dass sie eine der wichtigsten Stimmen der Gegenwartsliteratur ist – eine Stimme, der wir in Zeiten des Vergessens besonderes Gehör schenken sollten. „Vierundsiebzig“ ist nicht einfach nur ein Buch, es ist ein Aufruf zur Wachsamkeit. Es ist beeindruckend, kraftvoll und unnachgiebig – ein verdienter Kandidat für den Deutschen Buchpreis 2024 und ein Werk, das uns noch lange begleiten wird.
UND WAS NUN?